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Bluntschli: Allgemeines Staatsrecht.

litik, welche fest am Alten, selbst Ueberlebten halt, wie eine neue-
rungssüchtige Politik. Ebenso wenig ist der Satz allgemein durch-
führbar: „Der oberste und reinste Ausdruck des Staatsrechts ist
das Gesetz.“ Dagegen spricht die Thatsac’ne, dass in bereits sehr
entwickelten Staatskörpern nicht das Gesetz, sondern die Gewohnheit
vorherrschend als rechtsbildender Factor in Betracht kommt. In
allen Staaten des Mittelalters gab es sehr wenig Gesetze, welche
die öffentlichen Verhältnisse regelten, sondern fast Alles ruhte auf
Gewohnheitsrecht. Selbst der ausgebildetste Staatskörper der moder-
nen Welt, England, basirt sich in seiner ganzen Rechtsentwickelung
ebenso gut auf Gewohnheitsrecht wie auf ausgebildetes Gesetzes-
recht: Warum soll ersteres nicht ein ebenso reiner Ausdruck
des Staatsrechts sein als das Gesetz?
Sehr verdienstlich ist es dagegen, dass der Verfasser entschieden
die traditionelle Unterscheidung zwischen Staatsrecht und Politik
aufgibt. Es erben nicht bloss Gesetze und Rechte, sondern auch
Definitionen und Distinctionen in den Lehrbüchern, wie eine ewige
Krankheit fort. Herr Bluntschli sagt mit vollem Rechte: „Insbeson-
dere ist die Auffassung der Politik als einer blossen Klugheits-
lehre unedel. In der Sprache des gemeinen Lebens werden wohl
etwa die Ausdrücke politisch und klug in nahe verwandtem Sinne
gebraucht und Politik mit Klugheit, selbst mit zweideutiger Schlauheit
verwechselt. In diesem Sprachgebrauche aber ist nur das Zerrbild,
nur die Entartung des wahren Begriffs der Politik sichtbar und wird
der sittliche Gehalt dieser völlig verkannt. Die grossartigste und
fruchtbarste Politik war von jeher weniger eine kluge, als eine
weise und von moralischer Kraft erfüllte! Wäre der Verf. nur noch
einen Schritt weiter gegangen und hätte geradezu erklärt, dass
überhaupt ein derartiger scharfer Unterschied zwischen Politik und
allgemeinem Staatsrecht nicht besieht, so würde er der Wissen-
schaft einen bessern Dienst erwiesen haben, als durch den unhalt-
baren Versuch, einen neuen Unterschied aufzufinden. Wir müssen
hier vielmehr zur einfachen und natürlichen Auffassung der Griechen
zurückkehren, welche unter Politik die ganze Wissenschaft vom
Staate (πολιτεία} verstanden, wie der Verf. selbst richtig bemerkt.
In diese Gesammtheit der Staatswissenschaft oder Politik werden
dann alle einzelnen Wissenszweige, welche sich mit irgend einer
Seite des Staatswesens beschäftigen, naturgemäss eingeordnet.
Der Verf. nennt sein allgemeines Staatsrecht ein „geschicht-
lich begründetes“. Er will damit andeuten, dass sein Werk
nicht zu den hohlen Speculationen gehört , welche den Staat aus
magern Begriffen heraus entwickeln und die Fülle der wirklichen
Thatsachen vornehm ignoriren. Aber auch die bloss historische
Begründung ist eine Einseitigkeit. Die Aufgabe ist vielmehr, eine
Grundansicht zu finden, welche die höhere Einheit der historischen
und philosophischen Ansicht bildet, also eine geschichts-philo-
sophische Auffassung. Ich kann hier auf Ausführung dieser so
 
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