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Czolbe: Darstellung des Sensualismus.
deren Bilder es in sich festhält. Es ist also nicht nur kein inhalts-
loser Anfangspunkt der Wahrnehmungen, sondern im Gegentheile
der inhaltsvollste Mittelpunkt aller Wahrnehmungsradien des Men-
schen, so dass alle diese augenblicklich ohne das Bewusstsein ver-
schwunden, und erst wieder mit dem Bewusstsein ihre Realität er-
halten. Die Kraft ist kein inhaltsleeres Abstractum, sondern sie ist
concret in den Kraftwesen, und die Materie sinkt zum Unding, zum
unanschaulichsten und widerspruchsvollsten Begriffe eines stofflichen
Chaos ohne die Kraft herunter. Das Nervensystem einerseits und
die physikalischen Agenden anderseits, mit denen der Herr Verf.
Alles erklären will, setzen also noch ein Drittes, die Kraft voraus,
welche dem Substrate des Stoffes vorausgehen muss, damit dieser
lebendig und organisch sei. Nicht der von Liebig präparirte
Harnstoff, sondern nur das von Göthe mit Recht als die aberwitzigste
Lächerlichkeit hingestellte Verfertigen des Homunculus nach einem
chemischen Recepte könnte also die Lehre von der Kraft umstossen.
Sie ist das in, hinter und jenseits der Materie Thätige, das Prius
des materiellen Posterius, das hinter oder über der äussere Erschei-
nung Liegende und sich dennoch in dieser Kundgebende, welches
der Sinn nicht unmittelbar erschaut, sondern nur durch das Medium
der Vernunft findet, das Transcendentale oder Uebersinnlicbe, so dass
dieses die letzte Grundbedingung nicht nur für den Menschen, son-
dern für jeden Organismus, ja für jede unorganische Erscheinung ist.
Die geistigen Thätigkeiten dynamisch zu erklären, ist also gewiss
„anschaulicher“, als sie durch den Mechanismus physischer Agentien
erklären zu wollen, indem man in verkehrter Anschauung nach
Locke’scher Einseitigkeit die Seele zu einer Tabula rasa machen will,
in die Alles von Aussen hineinkommt, und aus der sich dann durch
dieses Hineinkommen Alles heraus entwickeln muss, während sie doch
ursprünglich nichts sein soll, uneingedenk des Princips der griechischen
Speculation, nach welchem aus Nichts Nichts wird. Was sich nicht
denken lässt, ist für uns nicht anschaulich und darum nach dem
eigenen Grundsätze des Hrn. Verf. zu verwerfen. Desshalb ist auch
die Ableitung dessen, was nur dynamisch erklärt werden kann,
aus mechanischer Bewegung unhaltbar. Die mathematischen,
Wahrheiten, welche nach Kant aprioristisch sind, sucht dieser Sen-
sualismus aus der Erfahrung allein abzuleiten. Wenn er auch den-
jenigen beistimmt, welche behaupten, dass weder die Natur noch
die Kunst jemals eine vollkommene Kreislinie gezeigt habe, so steht,
wie er will, dennoch fest, dass aus den sinnlich wahrgenommenen,
unvollkommenen Kreislinien durch Abstraktion die Vorstellung des
vollkommenen Kreises als Begriff entstehe (S. 39). Denn nach
seinem Dafürhalten ist jeder Begriff von dem „Individuellen befreit
oder gereinigt.“ Offenbar sind aber die Begriffe nicht die Dinge selbst.
Wenn auch diese materiell und individuell erscheinen, ist der Be-
griff weder materiell, noch individuell. Der Begriff gehört aber ge-
wiss zu einer der mächtigsten und bedeutendsten Erscheinungen des
Czolbe: Darstellung des Sensualismus.
deren Bilder es in sich festhält. Es ist also nicht nur kein inhalts-
loser Anfangspunkt der Wahrnehmungen, sondern im Gegentheile
der inhaltsvollste Mittelpunkt aller Wahrnehmungsradien des Men-
schen, so dass alle diese augenblicklich ohne das Bewusstsein ver-
schwunden, und erst wieder mit dem Bewusstsein ihre Realität er-
halten. Die Kraft ist kein inhaltsleeres Abstractum, sondern sie ist
concret in den Kraftwesen, und die Materie sinkt zum Unding, zum
unanschaulichsten und widerspruchsvollsten Begriffe eines stofflichen
Chaos ohne die Kraft herunter. Das Nervensystem einerseits und
die physikalischen Agenden anderseits, mit denen der Herr Verf.
Alles erklären will, setzen also noch ein Drittes, die Kraft voraus,
welche dem Substrate des Stoffes vorausgehen muss, damit dieser
lebendig und organisch sei. Nicht der von Liebig präparirte
Harnstoff, sondern nur das von Göthe mit Recht als die aberwitzigste
Lächerlichkeit hingestellte Verfertigen des Homunculus nach einem
chemischen Recepte könnte also die Lehre von der Kraft umstossen.
Sie ist das in, hinter und jenseits der Materie Thätige, das Prius
des materiellen Posterius, das hinter oder über der äussere Erschei-
nung Liegende und sich dennoch in dieser Kundgebende, welches
der Sinn nicht unmittelbar erschaut, sondern nur durch das Medium
der Vernunft findet, das Transcendentale oder Uebersinnlicbe, so dass
dieses die letzte Grundbedingung nicht nur für den Menschen, son-
dern für jeden Organismus, ja für jede unorganische Erscheinung ist.
Die geistigen Thätigkeiten dynamisch zu erklären, ist also gewiss
„anschaulicher“, als sie durch den Mechanismus physischer Agentien
erklären zu wollen, indem man in verkehrter Anschauung nach
Locke’scher Einseitigkeit die Seele zu einer Tabula rasa machen will,
in die Alles von Aussen hineinkommt, und aus der sich dann durch
dieses Hineinkommen Alles heraus entwickeln muss, während sie doch
ursprünglich nichts sein soll, uneingedenk des Princips der griechischen
Speculation, nach welchem aus Nichts Nichts wird. Was sich nicht
denken lässt, ist für uns nicht anschaulich und darum nach dem
eigenen Grundsätze des Hrn. Verf. zu verwerfen. Desshalb ist auch
die Ableitung dessen, was nur dynamisch erklärt werden kann,
aus mechanischer Bewegung unhaltbar. Die mathematischen,
Wahrheiten, welche nach Kant aprioristisch sind, sucht dieser Sen-
sualismus aus der Erfahrung allein abzuleiten. Wenn er auch den-
jenigen beistimmt, welche behaupten, dass weder die Natur noch
die Kunst jemals eine vollkommene Kreislinie gezeigt habe, so steht,
wie er will, dennoch fest, dass aus den sinnlich wahrgenommenen,
unvollkommenen Kreislinien durch Abstraktion die Vorstellung des
vollkommenen Kreises als Begriff entstehe (S. 39). Denn nach
seinem Dafürhalten ist jeder Begriff von dem „Individuellen befreit
oder gereinigt.“ Offenbar sind aber die Begriffe nicht die Dinge selbst.
Wenn auch diese materiell und individuell erscheinen, ist der Be-
griff weder materiell, noch individuell. Der Begriff gehört aber ge-
wiss zu einer der mächtigsten und bedeutendsten Erscheinungen des