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v. Bernhard!: Denkwürdigkeiten des Generals Grafen V. Toll. 415
diesem zweiten Theil den Faden der Erzählung mit der Ankunft
des neuen Obergenerals Kutusow (29. Aug. 1812) wieder auf.
Letzterer wird beinahe überall in dem Werk mehr von dem Stand-
punkt eines alten, schlauen, ränkevollen Nationalrussen, denn des
tüchtigen, auf Kühnheit und Waffenkenntniss gestützten Feldherrn
betrachtet, der hier und da aber gewonnene Sieg bei grossem Ope-
rationen dem Chef des Generalstabs und Gegenstand der Biographie
zugeeignet. Diess ist wohl einseitig und übertrieben aufgefasst, viel-
leicht als Correlativ zu dem unmässigen, panegyristischen Ton früherer
Militärschriftsteller, namentlich Danilewski’s. In der That aber,
wenn auch nicht vollständig, fand dort zwischen dem Obergeneral
und seinem Generalstabschef eine natürliche Wechselwirkung freund-
licher Art Statt, wie sie etwa bei sonst vielfach abweichenden Ver-
hältnissen in reinem und schärfer ausgedrückten Gepräge Blücher
und Gneisenau zeigen. Es wird ja auch stillschweigend zuge-
geben, dass zwischen beiden vorragenden Persönlichkeiten des Rus-
sischen Hauptquartiers die innigste, an Vater und Sohn erinnernde
Freundschaft des Gefühls herrschte, eine Vertraulichkeit, welche so
heilsam für das Ganze geworden sei (S. 13).
Wie stimmt das aber zu einem „intriguanten“, körperlich und
geistig fast gebrochenen und dennoch, wie die Thaten zeigen, kräf-
tigen, umsichtigen Charakter! Die Bedenklichkeit und das Zurück-
weichen vor jedem Wagniss lagen wohl eben so sehr in dem Alter
als dem berechnenden Wesen; cunctando restituit rem. Zufall und
Plan gingen dabei Hand in Hand, wie denn gewöhnlich in grossen
Kriegen diese Faktoren es zu thun pflegen. „Nous avons adoptd
le systhme de faire une guerre de lenteur et de mouvements, nous
rötrogradons pas ä pas“ Alexander an den Admiral Tschit-
chagoff in den Memoiren des letztem S. 26. Der Gedanke, dass
ein so mächtiger, waffengeübter Feind, klug geführt, möglichst in
das Innere bis zu einem gewissen Punkt eindringen müsse, lag auf
der Hand; Raum und Zeit konnten da den Vertheidigern die beste
Hülfe leisten. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn der behut-
same, dabei übermässig vor Napoleons Genie gleichsam zurück-
weichende Obergeneral die guten Stellungen bei Zarawo Saimischtsche,
und Gschatsk räumte und endlich bei Borodino, die Hauptstadt zu
decken, den gebotenen Kampf annahm. Diesen beschreibt das zweite
Kapitel ausführlich und mit Benutzung aller vorhandenen Hülfsmittel
auf musterhaft unparteiische Weise. Ein letzter Stoss der unberührt
gebliebenen Garden hätte, wird auch hier geurtheilt, dem Russischen,
eigentlich geschlagenen Heere wahrscheinlich die völlige Niederlage
bereitet. Aber konnte der Wurf nicht auch fehlschlagen und dann
mit dem umgekehrten Endergebniss endigen? Die Franzosen, welche
mit 123,000 Mann gegen 104,000 standen (S. 57), hatten zwar an
Todten und Verwundeten etwa nur ein Drittel (35,000 Mann), die
Russen nahezu die Hälfte (59,000 Mann) auf der Wahlstatt zu-
rückgelassen (S. 112 und 115), aber im Grunde an frischer Kraft
 
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