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416 v. Bernhardi: Denkwürdigkeiten des General Grafen v. Toll.
nichts vorausbehalten. Denn das beiderseitige Gewürge führte hier
wie dort zur Ermattung, die Schlacht hörte noch bei hellem Tage
auf, weil beide Theile völlig erschöpft waren; der Kriegsdämon,
innerhalb weniger Stunden durch fast beispiellose Opfer gleichsam
übersättigt, fiel in betäubende Bewusstlosigkeit. — Vor dem Gedan-
ken, den letzten Rückhalt dranzusetzen, schauerte desshalb selbst
der halbe Sieger zurück. Man hat nicht nöthig, hier dem gefeier-
ten Heerführer Erkältung und Fieberfrösteln, Reaction der ungün-
stigen Novellen aus dem Pyrenäenlande und ähnliches als erklärende
Motive unterzuschieben. Der hartnäckige Widerstand und die ge-
waltige Einbusse, verbunden mit der Hoffnung, dass nur Moskau
höchstens nach einer neuen Schlacht fallen und den Krieg endigen
werde, erläutern hinlänglich die negative Haltung des Französischen
Kaisers. Seinerseits beschloss Kutusow, von dem ungeheueren Ver-
lust unterrichtet, nicht, wie er anfangs gewillt war, die Erneuerung
des Kampfes, sondern den Rückzug auf die Hauptstadt. Derselbe
geschah, weil der Feind in der Nacht des 8. Septembers selbst den
grössten Theil der Wahlstatt geräumt hatte, ohne wesentliche Stö-
rung, wenn auch keineswegs in immer geordneten Reihen. Diess
und wie man die unzulängliche Stellung vor der Hauptstadt nach
einem zu Fili gehaltenen Kriegsrath aufgab, jenseit bei Panky und
zuletzt in Folge der ungeheuren Katastrophe nach umsichtig be-
schlossenem und vollzogenem Flankenmarsch bei Tarutino lagerte,
erörtert der Verfasser in dem dritten und vierten Kapitel. „La
voilä enfin cette fameuse ville 1“ rief Napoleon am 14. September
aus, als er bei heiterm Himmel die alte Czarenstadt „mit den gol-
denen Kuppeln“ erblickte und hier auszuruhen, die Erndte des Frie-
dens abzuhalten gedachte. (S. Aufzeichnungen des Grafen von Bis-
mark S. 137.) — Und in der Nacht, welche diesem Tage folgte,
loderte die prachtvolle, menschenleere Residenz in Flammen auf,
ein wahrhaft welthistorisches Ereigniss, „eine rettende Gross- und
Frevelthat“, bei jetzt vorgeschrittener Civilisation das zweitemal wohl
unmöglich. — Ueber dem Akt ruhet noch manches Dunkel; der
Haupturheber, Rostopschin, war ein so harter und entschiedener
Charakter, dass er den jungen Kaufmanssohn Waratschagin als Ueber-
setzer einer Französischen Proklamation der Volksrache überlieferte
und eben so wenig vor dem ungeheuren Zerstörungswerk zurück-
bebte. Dafür zeugt neben anderm auch der hier zuerst mitgetheilte .
Brief an den Fürsten Bagration (S. 162). Das Schreiben, unmit-
telbar vor der Schlacht bei Borodino erlassen, lautet: „Ich hoffe, ,
dass man noch eine Schlacht liefern werde, ehe man Moskau dem
Feinde preisgibt. Wird die Armee geschlagen und kömmt bis hie-
her, so rücke ich mit hunderttausend Einwohnern zu Ihrer Unter-
stützung aus; gelingt es auch dann nicht; nun so sollen die Böse-
wichter statt Moskau’s nur dessen Asche erhalten.“ Die
Frage: „handelte der Thäter mit Vorwissen und Willen einer höhern
Macht?“ lässt sich leichter aufwerfen als beantworten.
(Schluss folgt.)
 
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