®Γ· 7· HEIDELBERGER 1870.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Piig-veda-sanhila. The sacred hymns of the Brahmans trans-
lated and explained by F. Max Müller. Vol. I. London 1869.
CHI1 und 263 pp. Svo.
Unserer Zeit ist es beschieden, so manche Güter zu geniessen,
nach denen trübere Jahrhunderte vergeblich geschmachtet haben.
Wie mancher unserer Vorfahren hat die Nachwelt darum beneidet,
dass es ihr vergönnt sein werde, die Schätze von Weisheit zu ken-
nen, welche die Brahmanen in ihren heiligen Schriften niedergelegt
haben und von denen man im Voraus ahnte, dass sie uns die ur-
sprünglichste und zugleich die vollendetste Poesie erschliessen
würden. An unser Ohr dringen die Töne der Vedas zwar noch
nicht vollkommen vernehmlich, aber doch deutlicher und reiner
denn je vorher. Wie mit so manchem Jugendtraum, so geht
es freilich auch hier: man sieht, dass der Besitz des ersehnten
Gutes entweder nicht so wichtig ist als man geglaubt hatte, oder,
wenn er wichtig ist, dass der Werth desselben nach einer ganz
anderen Seite hin liegt als wo man ihn suchte. Der Werth der
Poesie ist überhaupt in unserem nüchternen Zeitalter sehr gesun-
ken, aber wir glauben auch, dass in unseren Tagen Niemand mehl'
in dem Veda ein Werk sucht, welches den Homer oder die Psal-
meu verdunklen könnte. Dagegen hat das Buch für uns ein er-
höhtes Interesse erhalten, weil wir in ihm ein uraltes Werk ent-
deckt haben, welches einem Volke angehört, das mit uns gleichen
Stammes ist, ein Werk, in dem wir auch Spuren der Geschichte
unserer eigenen Vergangenheit wahrnehmen können, ein Buch endlich,
welches uns einen Einblick in das Geistesleben eines indogermani-
schen Volkes in einer so frühen Zeit thun lässt, dass nirgends
sonst beglaubigte Urkunden in dieselbe binabreichen. So glauben
wir denn, dass die Erforscher des Veda es nicht bereuen dürfen,
ihre Zeit und ihre Kraft diesem Werke gewidmet zu haben. Es
ist kein Phantom dem sie nacbjagen, es ist wirklich ein Schatz
gefunden, den es nun gilt zu heben, langsam und vorsichtig, damit
uns nicht spätere Geschlechter vorwerfen können, es sei unsere
Schuld, dass er uns entgangen sei. Unserer Zeit ist es vergönnt
den Ausbau der Vedaphilologie zu beginnen, gewiss aber nicht ihn
zu vollenden. Unser vornehmstes Bestreben muss die Herstellung
eines tüchtigen soliden Grundes sein, auf dem künftige Geschlechter
fortbauen können.
Natürlich musste die erste Sorge der jungen Vedaphilologie
darauf gerichtet sein, aus den Handschriften einen correcten allge-
LXIII. Jabrg. 2. Heft. 7
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Piig-veda-sanhila. The sacred hymns of the Brahmans trans-
lated and explained by F. Max Müller. Vol. I. London 1869.
CHI1 und 263 pp. Svo.
Unserer Zeit ist es beschieden, so manche Güter zu geniessen,
nach denen trübere Jahrhunderte vergeblich geschmachtet haben.
Wie mancher unserer Vorfahren hat die Nachwelt darum beneidet,
dass es ihr vergönnt sein werde, die Schätze von Weisheit zu ken-
nen, welche die Brahmanen in ihren heiligen Schriften niedergelegt
haben und von denen man im Voraus ahnte, dass sie uns die ur-
sprünglichste und zugleich die vollendetste Poesie erschliessen
würden. An unser Ohr dringen die Töne der Vedas zwar noch
nicht vollkommen vernehmlich, aber doch deutlicher und reiner
denn je vorher. Wie mit so manchem Jugendtraum, so geht
es freilich auch hier: man sieht, dass der Besitz des ersehnten
Gutes entweder nicht so wichtig ist als man geglaubt hatte, oder,
wenn er wichtig ist, dass der Werth desselben nach einer ganz
anderen Seite hin liegt als wo man ihn suchte. Der Werth der
Poesie ist überhaupt in unserem nüchternen Zeitalter sehr gesun-
ken, aber wir glauben auch, dass in unseren Tagen Niemand mehl'
in dem Veda ein Werk sucht, welches den Homer oder die Psal-
meu verdunklen könnte. Dagegen hat das Buch für uns ein er-
höhtes Interesse erhalten, weil wir in ihm ein uraltes Werk ent-
deckt haben, welches einem Volke angehört, das mit uns gleichen
Stammes ist, ein Werk, in dem wir auch Spuren der Geschichte
unserer eigenen Vergangenheit wahrnehmen können, ein Buch endlich,
welches uns einen Einblick in das Geistesleben eines indogermani-
schen Volkes in einer so frühen Zeit thun lässt, dass nirgends
sonst beglaubigte Urkunden in dieselbe binabreichen. So glauben
wir denn, dass die Erforscher des Veda es nicht bereuen dürfen,
ihre Zeit und ihre Kraft diesem Werke gewidmet zu haben. Es
ist kein Phantom dem sie nacbjagen, es ist wirklich ein Schatz
gefunden, den es nun gilt zu heben, langsam und vorsichtig, damit
uns nicht spätere Geschlechter vorwerfen können, es sei unsere
Schuld, dass er uns entgangen sei. Unserer Zeit ist es vergönnt
den Ausbau der Vedaphilologie zu beginnen, gewiss aber nicht ihn
zu vollenden. Unser vornehmstes Bestreben muss die Herstellung
eines tüchtigen soliden Grundes sein, auf dem künftige Geschlechter
fortbauen können.
Natürlich musste die erste Sorge der jungen Vedaphilologie
darauf gerichtet sein, aus den Handschriften einen correcten allge-
LXIII. Jabrg. 2. Heft. 7