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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 28.1917

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Pabst, A.: Die Erziehung zur Form, eine Forderung des Tages
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https://doi.org/10.11588/diglit.10024#0134

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INNEN-DEKORATION

DIE ERZIEHUNG ZUR FORM, EINE FORDE-
RUNG DES TAGES. Für unser Zeitalter ist es
bemerkenswert, daß weiten Kreisen des Volkes — und

auch der sogenannten Ge-__

bildeten — das Gefühl für
die Form abhanden ge-
kommen ist. Eine Verwil-
derung der Form ist damit
eingetreten, die sich über-
all auf Schritt und Tritt
bemerkbar macht, im Stra-
ßenbild der Städte nicht
minder, wie im Innern der
Häuser, und auch am Men-
schen selbst, vor allem in
seiner Kleidung. Was vor
einigen Jahrzehnten in der
Baukunst sowohl in unserer
Reichshauptstadt wie in
dem entlegenstenDorf e ge-
sündigt worden ist, sehen
wir jetzt mit erschrecken-
der Deutlichkeit, nachdem
uns durch wahre Künstler
der richtige Maßstab an
die Hand gegeben wurde.
Es kann allerdings kaum
ein Zweifel sein, daß auch
heutigen Tages noch von
allen Künsten die Baukunst
die am wenigsten verstan-
dene ist und zugleich die-
jenige , der das Volk das
geringste Interesse ent-
gegenbringt. Vielleicht ist
man sogar hier und da im
Zweifel darüber, ob die
Architektur überhaupt zu
den Künsten gehöre, ob
der Architekt ein Künstler
sei oder nicht. Ein Blick
in dieGeschichte der Kunst
lehrt uns dagegen, daß sie
die Mutter aller Künste ist
und daß alle bildenden
Künste von ihr abhängig
sind und durch sie ihre
Gesetze erhalten sollten.
Da, wo der schlichte, un-
verdorbene Kunstsinn des
Volkes für die Entwicklung
der Baukunst maßgebend
war, ist diese auch immer
die richtigen Wege ge-
gangen, das der Landschaft
gut angepaßte Bauernhaus
zeigt diesüberall, imHoch-
gebirge ebensowohl wie
im Tiefland, im Mittelge-
birge und am Strande des
Meeres. Hier, wo die un-
scheinbaren Fischerhäuser mit ihren breiten Fenstern und
behaglichen Türen uns heute noch in glücklichster Weise
von altersher überlieferte Formen zeigen, tritt dies viel-

PROFESSOR E.R. WE1SS-BERL1N. »DEKORATIVES WANDGEMÄLDE«

leicht am meisten zutage. Aber auch anderwärts zeigt
sich der entscheidende Einfluß der Landschaft auf die
bodenständige Bauweise; sie hat z. B. das Niedersachsen-
haus ebenso charakteri-
stisch ausgestaltet wie das
Haus des ostelbischen Ko-
lonisten, das hessische und
thüringische Bauernhaus
sind wesentlich verschie-
den vom Schwarzwälder-
haus oder von der Siede-
lung im Hochgebirge. Und
wenn man die dörfliche
Bauweise genauer er-
forscht , so ist unschwer
nachzuweisen, daß sie ab-
hängig ist vom Charakter
der Landschaft, von den
zur Verfügung stehenden
Baustoffen und von den
wirtschaftlichen Betriebs-
formen, die für die betref-
fende Landschaft maßge-
bend sind.— Das bekannte
Rembrandtbuch hat an der
Wiedererweckung unseres
Sinnes für die Form einen
erheblichen Anteil. Es hat
nicht nur auf die Künstler
eingewirkt, deren Arbeit
und Erfolg ganz wesentlich
auf der Klarheit ihrer Form-
vorstellungen beruhen,
sondern es hat auch ein
Publikum für den Künstler
geschaffen, das ebenfalls
ohne einen gewissen Sinn
für die Form nicht urteils-
fähig sein würde. — Der
Künstler sucht die Form
zunächst in der Natur.
Diese ist seine Lehrmei-
sterin und gibt ihm die
Vorbilder für seine Werke,
wie es Goethe ausdrückt,
wenn er sagt: Die Natur
ist unermeßlich reich, sie
allein bildet den wahren
Künstler. Dies ist das-
selbe, was der alte Dürer
mit den Worten meint, daß
die Kunst wahrhaftig in
der Natur stecke und daß
man sie nur herauszureißen
brauche, um sie ganz zu
besitzen. Wie das ge-
schehen kann, findet der
geniale Künstler kraft sei-
ner Veranlagung, und bis
zu einem gewissen Grade
ist es lehrbar. Das ist die
Hauptaufgabe des Zeichen- und Kunstunterrichts. —
Ruskin erörtert in seinen »Elements of Drawing« diese
Frage sehr ausführlich, da er bei seinen Schülern den
 
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