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Michel, Wilhelm: Die strenge Linie
DOI Page / Citation link: https://doi.org/10.11588/diglit.10796#0302
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INNEN-DEKORATION
oberbaurat professor dr. hoffmann — wien
österreichischer pavillon »vorderansicht«
DIE STRENGE LINIE
Die strenge Linie im Bauen der Gegenwart hat
einen Sinn, der durch keine Ablehnung der Sach-
lichkeit aus der Welt zu schaffen ist: sie steht in enger
Verbindung mit der straffen willensmäßigen und den-
kerischen Bearbeitung der Wirklichkeit, die dem heute
lebenden Geschlecht zur Pflicht gemacht ist.
Es ist sicherlich wahr, daß die sogenannte »neue«
Sachlichkeit oft in Trockenheit, in lebensdürren Ratio-
nalismus abgeirrt ist. Aber das ändert nichts daran,
daß uns grundsätzlich aufgegeben bleibt, die Organi-
sation unserer Welt mit strengstem Wollen und höch-
ster Vernunftklarheit durchzuführen. Wirtschaft, Ar-
beit, Staat, Ethos — wir wissen, daß wir das alles nicht
sich selbst überlassen dürfen, sondern es zu ordnen
haben nach klar erkannten Zwecken und in ver-
standesmäßiger, durchdachter Fassung. Die strenge
Linie, die in unserem Bauen erscheint, ist Sprache
einer Menschheit, die sich kein Gehenlassen, keinen
Vernunftverzicht und keine Willensschlaffheit gestat-
ten darf. Überall, wo die Gerade, der rechte Winkel,
die großen, übersichtlichen Zusammenfassungen im
Baukörper und im Raum erscheinen, da redet der um
Klarheit ringende Geist unserer Zeit, so wie er auch
redet in den mächtig durchgreifenden Gliederungen,
Einteilungen und Zusammenfassungen, die überall im
Aufbau des neuen deutschen Staates auftreten. Und
es ist Zeit, daß wir uns klarmachen: Weder im Bauen
noch sonstwo ist die rationale Klarheit (und ihr Aus-
druck, die »strenge Linie«) gegen das Leben oder gar
gegen das deutsche Wesen gerichtet, sondern sie ist
Ausdruck unseres Strebens, Herr zu werden über diese
unübersichtliche moderne Welt und ihr in allen
Stücken die rechte Richtung auf das wahre Leben zu
geben. Nicht Rationalität an sich ist schlecht, sondern
nur die Rationalität, die im Dienst falscher Zwecke
und Lebensauffassungen steht! Und so sind auch bau-
liche Sachlichkeit oder bauliche Strenge und Klarheit
nicht an sich verwerflich, sondern nur da, wo sie ins-
geheim zu Propagandisten verkehrter Lebensanschau-
ungen gemacht werden. Bleiben sie im Dienst am
Rechten, dann stehen sie weder zum Leben noch zum
deutschen Wesen im Widerspruch. Wilhelm michel
INNEN-DEKORATION
oberbaurat professor dr. hoffmann — wien
österreichischer pavillon »vorderansicht«
DIE STRENGE LINIE
Die strenge Linie im Bauen der Gegenwart hat
einen Sinn, der durch keine Ablehnung der Sach-
lichkeit aus der Welt zu schaffen ist: sie steht in enger
Verbindung mit der straffen willensmäßigen und den-
kerischen Bearbeitung der Wirklichkeit, die dem heute
lebenden Geschlecht zur Pflicht gemacht ist.
Es ist sicherlich wahr, daß die sogenannte »neue«
Sachlichkeit oft in Trockenheit, in lebensdürren Ratio-
nalismus abgeirrt ist. Aber das ändert nichts daran,
daß uns grundsätzlich aufgegeben bleibt, die Organi-
sation unserer Welt mit strengstem Wollen und höch-
ster Vernunftklarheit durchzuführen. Wirtschaft, Ar-
beit, Staat, Ethos — wir wissen, daß wir das alles nicht
sich selbst überlassen dürfen, sondern es zu ordnen
haben nach klar erkannten Zwecken und in ver-
standesmäßiger, durchdachter Fassung. Die strenge
Linie, die in unserem Bauen erscheint, ist Sprache
einer Menschheit, die sich kein Gehenlassen, keinen
Vernunftverzicht und keine Willensschlaffheit gestat-
ten darf. Überall, wo die Gerade, der rechte Winkel,
die großen, übersichtlichen Zusammenfassungen im
Baukörper und im Raum erscheinen, da redet der um
Klarheit ringende Geist unserer Zeit, so wie er auch
redet in den mächtig durchgreifenden Gliederungen,
Einteilungen und Zusammenfassungen, die überall im
Aufbau des neuen deutschen Staates auftreten. Und
es ist Zeit, daß wir uns klarmachen: Weder im Bauen
noch sonstwo ist die rationale Klarheit (und ihr Aus-
druck, die »strenge Linie«) gegen das Leben oder gar
gegen das deutsche Wesen gerichtet, sondern sie ist
Ausdruck unseres Strebens, Herr zu werden über diese
unübersichtliche moderne Welt und ihr in allen
Stücken die rechte Richtung auf das wahre Leben zu
geben. Nicht Rationalität an sich ist schlecht, sondern
nur die Rationalität, die im Dienst falscher Zwecke
und Lebensauffassungen steht! Und so sind auch bau-
liche Sachlichkeit oder bauliche Strenge und Klarheit
nicht an sich verwerflich, sondern nur da, wo sie ins-
geheim zu Propagandisten verkehrter Lebensanschau-
ungen gemacht werden. Bleiben sie im Dienst am
Rechten, dann stehen sie weder zum Leben noch zum
deutschen Wesen im Widerspruch. Wilhelm michel