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Zeitschrift des Kunst-Gewerbe-Vereins zu München — 1879

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Heft 7/8
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Pecht, Friedrich: Ueber die Wiederaufnahme des deutschen Renaissancestiles
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https://doi.org/10.11588/diglit.6905#0054

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■h 50 ~5-

Bauformen übergehen, dieselben aber vollkommen frei, nach ihrem eigenen Genius, ihren Mitteln, Sitten und
Anschauungen umbilden sehen. Die Deutschen sind im Zurückgreifen aus ihre Renaissance auch gar nicht einmal
die Ersten gewesen, vielmehr sind ihnen hier die Italiener und Franzosen schon vorausgegangen, wie die beiden
bedeutendsten Bauwerke derselben, die Passage Vittorio Emanuele in Mailand und das pariser Opernhaus
zeigen. Engländer, Belgier, Holländer aber, ja sogar die Russen zeigen ziemlich gleichzeitig dieselbe Tendenz,
sogar in Spanien und Portugal taucht sie auf.

Der tiefere Grund, daß ein solches Schauspiel sich im neunzehnten Jahrhundert wie durch gemeinsames
Einverständniß wiederholt, ist leicht auszufinden. Pente wie damals sind es die großen, epochemachenden Ent-
deckungen, die auf den ersten Blick alle nationalen Unterschiede verwischen zu müssen schienen, welche dieses
Zufammenraffen der Volker-Individualitäten zur Folge haben. Die Erfindung der Buchdruckerkunst, welche
sich init merkwürdiger Schnelligkeit über die ganze Welt verbreitete und die durch sie ungeheuer erleichterte Aenntniß
der griechisch-römischen Bildung und Aunst schien damals dieselbe Wirkung äußern zu müssen, als jetzt die Er-
findung der Eisenbahnen und Telegraphen, die ungeahnte Erleichterung aller Aommunikationen. Wie aber dort
dieser Ueberfluthung sofort ein Damm gesetzt wurde durch die in Folge der ungeheuer vermehrten literarischen
Thätigkeit erzeugte rasche Ausbildung der nationalen Sprachen, welche die unnrittelbare Folge der Druckerkunst
war, so begann mit den Werken eines Dante, Petrarca, Arioft, Taffo die italienische Sprache und Nationalität
ebenso erst recht zum Bewußtsein zu kommen, wie mit denen des Tervantss und Shakespeare die spanische und
englische, der Bibel Martin Luther's die deutsche, die seit den Minnesängern fast still gestanden war. In der
Aunst aber bildeten die griechisch-römischen Bauformen bald nur mehr den Einschlag des Gewebes, den Zettel
aber die jeweilige Nationalität, genau so wie es bei der Gothik oder dem romanischen Stil auch gegangen war.
Das diesen Erscheinungen zu Grunde liegende Gesetz aber ist doch kein anderes als daß mit der steigenden Aultur
das Steigen des individuellen Bewußtseins bei den Nationen ganz wie bei den Individuen gleichen Schritt hält.
Ein Raphael, Dürer, Göthe, Voltaire sind denn auch viel gründlicher von einander verschieden, als ein deutscher,
italienischer oder französischer Bauer.

Eben deshalb sehen wir also auch parallel mit den anscheinend so nivellirenden Wirkungen der modernen
Entdeckungen die Völker sich ihrer nationalen Unterschiede, ihrer so verschiedenen Gemüths- und Geistesart wie
Empfindungsweise nur um so bestimmter bewußt werden und sie nur mit unr so größerer Schärfe politisch wie
künstlerisch ausprägen. Wenn nun ein großes, hochbegabtes Volk einen so ungeheuren Aufschwung nimmt wie
das deutsche in unserem Jahrhundert, wenn es auf einmal ein Wachsen des nationalen Bewußtseins, der schö-
pferischen Araft zeigt, das noch vor siebzig Jahren kein Mensch ahnen konnte, wie sollte sich das nicht endlich
in der von allen Aünsten mit der politischen Entwicklung im engsten Zusammenhang stehenden, der Architektur
und folgerichtig auch in ihrer Gehilfin, der Aunstindustrie, aussprechen? pat etwa ein Tornelius weniger an
Dürer angeknüpft, als unsere heutigen Aünstler und Industriellen an Polbein? Im Gegentheil sind Malerei
und Skulptur hier der Architektur entschieden voraufgegangen; Schadow, Rauch und Rietschel fchufen eine nationale
Skulptur schon lange, ehe Semper mit vollem Bewußtsein zur Renaissance griff und uns auf die Gesetze aller
Stilbildung aufmerksam machte. In der Malerei aber hat das ganze vorige Jahrhundert nicht einen Aünstler
erzeugt, der die nationale Empfindungsweise auch nur entfernt fo scharf ausspräche, als dies ein Schwind, Ludwig
Richter, Anaus, Defregger, paffini, ja selbst ein Makart thun oder ein Weber, Beethoven, Richard Wagner in
der Musik. Wenn dieses Zurückgreifen aber in München entschiedener als in Wien trotz dessen vorgeschritteneren
technischen Entwicklung vor sich ging, so ist das doch leicht damit zu erklären, daß die Aaiserstadt an der Donau
eben ein etwas schwächeres nationales Bewußtsein besitzt. Aber obwohl der Eklektizismus dort in der Aunst-
industrie vielfach maßgebend war, so sind doch dieselben Symptome auch bei ihr sehr leicht nachzuweisen.

Wirft man uns nun, wie perr Reichensberger, vor, daß die Werke unserer Väter in der Aunstindustrie
den unsrigen so sehr überlegen seien, so kann man das ja gerne zugeben, denn wir stehen eben erst am Anfang
einer unabsehbaren Entwicklung. Um so entschiedener aber tnuß man bestreiten, daß die Gothik bei uns irgend
schöpferischer gewesen als die Renaissance, im Gegentheil ward gerade auf der Münchener Ausstellung von s876
für Jeden, der nur mit offenen Augen vor die Dinge hintreten wollte, unwiderleglich bewiesen, daß die eigentlich
produktive und gediegene Periode unserer Aunst, wo sie es allein zu wahrhaft neuen und mustergiltigen Leistungen
brachte, ganz und gar nicht die erstere, sondern die letztere ist. Die Gothik hat nur das Verdienst, die Technik
auf eine beträchtliche pöhe gebracht zu haben. Aanti man schon die Van Eyck's keine gothischen Aünstler mehr
nennen, so gewiß noch viel weniger die Peter Vischer, Dürer oder gar Iamitzer, die schon mit aller Gewalt sich
von den Fesseln dieses spröden Stils zu befreien streben, bei den: Plastik und Malerei gleich sehr zu kurz kommen.
Polbein vollends, in den: die deutsche Aunst unzweifelhaft ihren Pöhepunkt erreicht, ist ja der eigentliche Erfinder
der deutschen Renaissance. Warum nun aber alle diese Aünstler sammt ihren Zeitgenossen die Gothik dermaßen
gehaßt haben, daß aus einigen hundert altdeutschen Bildern der Münchener Pinakothek mit so viel landschaft-
lichen pintergründen und Architekturen aller Art kann: ein paarmal gothische Gebäude erscheinen? Das war
 
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