Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 1.1902-1903

DOI Artikel:
Friedländer, Max J.: Der neue Cranach des Berliner Museums
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3547#0038

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Bild ist nicht nach den an Cranach gewohn-
ten Typen geformt. Alles ist edler, die Zeich-
nung und Form aller Teile gross und breit und
von grosser Schönheit, der kleine Christus ist
in der Zeichnung so vollendet, wie nur irgend
von einem grossen Italiener. Die Farbe ist
glänzend,harmonisch und durchweg glühender,
als man sie im allgemeinen bei Cranach
findet. . . . Ich habe es wiederholt gesehen
und obgleich man stellenweis an Lucas Cra-
nach erinnert wird, kann ich es doch nicht
dafür erklären, weil die Charaktere durchaus
anders sind und eine bei dem nicht gesehene
Schönheit das Ganze durchströmt. Später
habe ich mich immer mehr überzeugt, dass
es wirklich Cranach ist." Das alles hat seine Be-
rechtigung und zeugt von feinem Verständnis.

Wenn wir über dieses Schwanken des Ur-
teils hinweg gekommen sind, so gelang das
namentlich durch das Studium der Holz-
schnitte, die Cranach in den Jahren 1505
und 1506 geschaffen hat. Diese Holzschnitte,
die durch Friedrich Lippmanns schöne Publi-
kation leicht zugänglich geworden sind, be-
stätigen in glücklicher Uebereinstimmung die
Angaben des Bildes von 1504. Und heute
nehmen wir diese Tafel zum Masstab alles
dessen, was sonst von dem Meister zu sehen
ist, anstatt den Masstab des gewöhnlichen
Cranach-Stils an diese einzige Schöpfung zu
legen. Mit dem Wechsel des Standpunkts aber
wächst die Gestalt Cranachs stolz empor und
gewinnt eine schärfer ausgeprägte Eigenart.

Als Jugendwerk im engeren Sinne darf das
Bild von 1504 nicht betrachtet werden.
Cranach war schon 1472 zur Welt gekommen,
stand also im Mannesalter, da er es schuf.
In den Lichtkreis der Geschichte tritt er aller-
dings erst 1505 etwa. Damals wurde er an
den Hof des sächsischen Kurfürsten gerufen.
Von eigentlichen Jugendwerken wissen wir
nichts, auch nichts von den Quellen seiner
Kunst. Das fränkische Städtchen Kronach,
wo der Meister geboren ist, der Vater, bei
dem er seine Kunst gelernt haben soll, das
Thüringer Waldgebirge, wo er gewiss viele
Jugendjahre verlebt hat, Nürnberg, die nach-
barlich nahe Kunsthauptstadt des fränkischen

Stammes, wo Dürer thätig war, und Wien, wo
Cranach in jungen Jahren, nach einer glaub-
würdigen Ueberlieferung, geweilt hat: das sind
die Persönlichkeiten und Oertlichkeiten, die un-
sere Phantasie umkreist, indem sie die arge Lücke
unserer Kenntnis auszufüllen sich bemüht.

Das auf Holz gemalte Bild ist 70 cm hoch
und 5 2 7a breit. Dargestellt ist „die Ruhe
auf der Flucht", wie der iconographische
Terminus lautet. Die heilige Familie hat
einen weichen und grünen Platz gefunden in
waldiger gebirgiger Gegend, bei einer Quelle.
Eine Schar von Kinderengeln hat sich zu-
traulich, mit übermütiger Dienstwilligkeit zu
dem Christkinde gesellt.

Im Angesicht der Abbildung brauche ich
die herzhaften und heiteren Motive nicht
herzuzählen, mit denen die wundervoll zu-
sammengeschlossene Figurengruppe belebt ist.
Die Abbildung lässt mindestens ahnen, wie
glücklich und natürlich das Verhältnis er-
scheint zwischen der landschaftlichen Natur
und den menschlichen Gestalten, und wie die
Erzählung mit der Landschaftsstimmung zu
einer einheitlichen Wirkung zusammenklingt.

Der schwere Sommermittag lässt alle Far-
ben glühen. Das satte Grün des Laubes und
der Nadeln, der weisse Birkenstamm heben
sich ab von einem tief blauen Himmel, und
rote Töne in den Gewändern halten dem
Grün das Gegengewicht. Mit naiver Freude
an starken und warmen Lokalfarben ist durch
Lasieren auf hellem Grund eine ausserordent-
liche emailartige Leuchtkraft erzielt.

Um die Wende des 15. und 16. Jahrhun-
derts scheint aus der Tiefe des deutschen
Volksgeistes in Franken und an der Donau
eine Gestaltungskraft hervorzubrechen, die
sich gegen die gotische Tradition des Kirchen-
bildes wendet und die mit menschlicher
Empfindung und mit starker Hinneigung zur
landschaftlichen Natur die alten Aufgaben er-
staunlich frisch und unabhängig löst. Dieser
Gestaltungskraft, die bald erlahmte, verdanken
wir viele Holzschnitte, Kupferstiche und
Zeichnungen, und wenige Bilder. Unter den
wenigen Bildern aber ist Cranachs Tafel von
1504 eines der schönsten.

z9
 
Annotationen