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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 1.1902-1903

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Lichtwark, Alfred: Justus Brinckmann
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https://doi.org/10.11588/diglit.3547#0053

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Unabhängigkeit und Selbständigkeit erfüllt,
vermag er es weder, sich in Verhältnisse zu
schicken, die er nicht geschaffen hat, noch
dienend oder ausführend sich einem anderen
unterzuordnen, der sich in den Grenzen der
Ueberlieferung hält. Es ist ihm nicht gegeben,
auf Treu und Glauben zu übernehmen und
weiter zu reichen. Seine Natur treibt ihn,
jede Vermittlung beiseite zu schieben und den
Dingen selber auf den Leib zu rücken. Er
schmilzt alle geprägten Formeln ein, er steigt
über alle Schranken bestehender Meinungen
hinweg. Kein Urteil, alt oder jung, kann das
seine beirren, und mit ahnender Erkenntnis
dringt er über das Gewordene zu den Ur-
sprüngen vor. Die bestimmenden Kräfte seines
Wesens, Wille, Instinkt, Intuition, Witterung,
haben ihre Wurzeln in einem gesunden, mit
scharfen Sinneswerkzeugen ausgerüsteten Kör-
per, der nicht zu ermüden ist, und aus dessen
Lebenstülle eine gegen jede Belastung wider-
standsfähige Heiterkeit und Gelassenheit ent-
springt.

Von solchen Kräften der Seele, des Geistes
und der Sinne geleitet, eilt er mit seinen
Thaten der Einsicht des klarsten Verstandes,
auch wohl des eigenen, um Jahrzehnte voraus,
und oft genug begreift er von sich selber nur,
was ein halbes Menschenalter hinter ihm liegt.
Aus diesem geheimnisvollen Vermögen seiner
Seele erwächst ihm die Gabe, sich in grossen
Dingen nie zu irren, und er selber fühlt diese
Macht als eine Art Unfehlbarkeit in der
ruhigen Arbeit des Tages wie in den Stunden
des Kampfes.

Sein Lebensweg pflegt nicht in geradem
Lauf, sondern als Zickzacklinie zu beginnen.
Er ist in der Regel ein schlechter Schüler.
Seine Zeugnisse verraten den Unwillen oder
die Verzweiflung der Lehrer, die ihm in den
oft wiederholten und stets wiederkehrenden
Formeln Schiffbruch und Untergang voraus-
sagen. Alles Fertige langweilt ihn, und was
ihm pedantisch, unlebendig oder unsachlich
entgegengebracht wird, stösst ihn ab. Was
aber im weitesten Umkreis seine Teilnahme
erweckt, lockt ihn unwiderstehlich an, und
durch alle Hindernisse hindurch stürzt er

darauf zu, und macht es zur Beute. So fliegt
er hierhin und dorthin, scheinbar, wie es der
Zufall fügt, in Wirklichkeit, wenn auch un-
bewusst, dem Gesetz der organischen Ent-
wicklung gehorchend. Einem Lehrer, der ihn
zu den Dingen führt, giebt er sich hin, am
rückhaltlosesten, wo ihm selbständige Arbeit
überwiesen wird. Und wo er zugreift, packt
er den Kern, denn er nimmt die Dinge ernst
und die Urteile leicht.

Wendet er sich dann nach einer anderen
Seite, so ist er jedesmal um tiefe Einsicht
reicher, und wenn er zum Schluss in seine
grosse gerade Bahn einlenkt, so erscheint der
Zickzack der ersten Anschlüsse nicht als zu-
fällig und überflüssig, sondern als die von
höherer Hand gefügte glücklichste Vorberei-
tung für seine eigentliche Lebensaufgabe.

Umzusatteln beständig willens und bereit
zu sein, gehört bis in ein vorgerücktes Lebens-
alter zu seinen Eigentümlichkeiten. Er giebt
damit seiner Familie und seinen Freunden
immer aufs neue zu raten auf, weil sie die
Ursachen nicht zu fühlen oder zu schätzen
vermögen: das eiserne Bewusstsein eigener
Kraft, das Selbstvertrauen und das Bedürfnis,
den starken Neigungen genug zu thun.

Am unwiderstehlichsten aberzieht ihn auch
nach eingetretener Beruhigung überall das
Werdende an. Was fest begründet und fertig
dasteht, hat keinen Reiz für ihn, denn er kann
das Mächtigste in seiner Seele nicht daran aus-
lassen: die gestaltenden Kräfte, die nach Be-
tätigung hungern. Man darf ihn sich vor-
stellen, wie er in der Zeit der Entwicklung,
von innerer Unruhe getrieben und ohne sich
dessen bewusst zu sein, nach dem einen un-
bestellten oder eben in der Rodung begriffenen
Neuland auf der Suche ist. Hat er es endlich
vor sich, so erkennt er es auf einen Blick als
das für ihn bestimmte Reich, ist sofort mit
sich im Reinen und richtet, ohne sich und
andere zu fragen, sein Leben darauf ein.

Bald beherrscht er dies neue Gebiet, als sei
er nirgend anders zu Hause gewesen, und er-
weitert es weit über die bis dahin bekannten
Grenzen hinaus. Unter den Mitteln, die ihn
so rasch voranbringen, sind am wirksamsten

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