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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 1.1902-1903

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Heilbut, Emil: Eine Streitfrage
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https://doi.org/10.11588/diglit.3547#0494

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der neo-impressionistischen Bilder entsteht.
Die neo-impressionistischen Bilder sind näm-
lich nicht fertig. Die Aktion unseres Auges
macht erst ihre Farbenerscheinung geschlossen.
Und dieses Sichineinandereinschieben und
Zusammenschliessen der getrennten Farben-
bündel oder Farbenflecke — diese Art Ober-
fl'ächenbewegung — nannte van de Velde
Leben.

Dann ist Leben nicht mehr die auszeich-
nende Eigenschaft der Werke von Genie.
Leben ist dann einfach das Ergebnis eines
Malverfahrens.

Man wird dazu gedrängt, in van de Veldes
Kunstanschauung etwas Kunstgewerbliches zu
finden. Ein Vibrieren, das aus dem Handwerk
kommt, bezeichnet er mit dem Ausdruck
Leben: mit demselben Wort, mit dem wir
das Höchste, das Individuelle ausdrücken, das
aus Kunstwerken zu uns dringt. Der alte
Israels that (in seiner „Reise nach Spanien")
den für den alten Bildermaler so charakteristi-
schen Ausspruch: „Dass doch die Menschen
die Gemälde stets als Möbel für Salons, in
Korridoren, Kirchen u. s. w. gebrauchen
wollen" — van de Velde will sie wirklich nur
als Möbel brauchen. Sie sollen ihm das Haus
ausstatten, an den Wänden ihm dekorative
Linien zeigen, die aus dem Bildcharakter
herausgehen, oder ihm schimmernde Klänge
geben — es ist etwas Anderes um das Ideal,
das ihm vorschwebt als um unsere Bilderwelt.

Aber van de Velde hat ein starkes Gefühl
für gewisse Schönheiten, die einer jeden Kunst
eigen sind. Und wenn er auch nur gewisse
Elemente zu berücksichtigen versteht, sobald
er über die Schönheit in der Malerei urteilt:

„was wir an einem Renoir oder Degas lieben,
d. h.:. das -wunderbare Leben des Materials, das
lieben wir ebenso an einem van Goyen,
einem van der Meer, einem Rembrandt oder
Rubens;" —
oder sobald er vom Naturalismus sagt, dass
er nichts anderes als die Schönheit in der Technik
erstrebt hätte (Millet aber ist aus dieser Kunst-
weise hervorgegangen und Rodin); — oder
sobald er von sich äussert, er möchte Lichter
darstellen, und Wasserströme, auf denen viel-
farbige Lichter durcheinander schiessen; —
oder sobald er von den Dichtern (an einer Stelle
in seinem Vortrag, die im Aufsatz fortgefallen
ist) die Idee ausspricht:

„die Dichter entdeckten ganz neue Eigen-
schaften in den Wörtern und erkannten genau
die Wirkung eines Worts auf ein anderes
daneben gestelltes, sie arbeiteten wie Kompo-
nisten":
so sehen wir ihn als eine einheitliche Er-
scheinung, so wie er ist, zu fassen und so, wie
er ist, berechtigt. Wenn wir ihn bei solchen
in einem gewissen Sinne kunstgewerblichen
Erwägungen erblicken, dann fällt uns ein
anderer hochbegabter Mann, Theophile Gau-
tier ein, der in einem Gespräch, das die Gon-
courts festhalten, gesagt hat:

„demander ä la poesie du sentimentalisme, ce
n'est pas c^a. Des mots rayonnants, des mots
de lumicre, des mots de lumiere . . . avec un
rythme et une musique, voilä ce que c'est que
la poesie. Ca ne prouve rien, ga ne raconte
rien ..."

Das könnte auch van de Velde gesagt haben,
mit eben denselben Worten, mit eben derselben
Begeisterung für die Kunst um der Kunst
willen! Wir lieben van de Veldes Enthusias-
mus und seine hohe Intelligenz. Doch hätten
wir gewünscht, dass er sich nicht in den Neo-
Impressionismus verrannt hätte. H.
 
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