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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 23.1925

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Heft 12
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Wellington, Hubert: Die neuste Malerei in England, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4653#0479

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und der Vergangenheit trägt er keine Gelehrsam-
keit zur Schau. Zuerst bekundete er seine male-
rische Begabung in Zeichnungen und Entwürfen
für Teppiche und Stickereien und erfand Arabes-
ken und Muster von feinster dekorativer Schön-
heit der Linie und Fläche. Seit kurzem aber kon-
zentriert sich sein ganzes Interesse auf die solide
dreidimensionale Form und die volle Körperhaftig-
keit. Er mag sich aber noch so eingehend in die
Struktur und in das verschiedene Volumen der
einzelnen Objekte versenken — immer wird er bei
der Vollendung des Bildes eine absolute Einheit
und Harmonie erzielen. Die „Büste" zeigt seine
Begabung für die räumliche Komposition, und viel-
leicht übermittelt schon die Reproduktion sein eigen-
tümliches Talent, die Strenge der Komposition
durch Technik und malerische Qualitäten zu be-
reichern. Ihm scheint jedes Sujet zu liegen, Blumen,
Stilleben, Landschaft, Porträt, die Welt des Alltags
wie die Welt der Phantasie. Alles weiß er bildlich
zu gestalten, nur scheint ihn das Seelenleben der
Menschen wenig zu interessieren. Diese reinen
Malerqualitäten sind vielleicht typischer für den
Franzosen als für den Engländer, doch dürfen wir
nicht vergessen, daß Gainsborough sie in hohem
Maße besaß und sogar in besonders nervöser und
spontaner Weise auf die Reize der umgebenden
Natur reagiert hat, so daß ein Vergleich zwischen
ihm und Grant hierin nicht von der Hand zu
weisen ist. Auch in seinem warmen, reichen, gol-
denen und aprikosenfarbenen Kolorit ist Grant
durch und durch englisch. Walter Sickert definierte
einmal einen Koloristen als „einen Maler, der es
versteht, mit venezianischem Rot nur durch die
Art der Verwendung die Kraft des Zinnobers zu
erreichen", und Duncan Grants Palette zeigt jetzt
in der Hauptsache Oker, Erdfarben und anspruchs-
lose Pigmente, die ihre Schönheit durch die Aus-
wahl und ihr Verhältnis zueinander erhalten. Seine
Bilder scheinen oft zu leicht entstanden, sie meiden
die rauheren und kräftigeren Seiten des bildlichen
Schaffens, und sein Talent, das ihm wie eine reife
Frucht in den Schoß fiel, geht vielleicht den Kämp-
fen und Schwierigkeiten zu sehr aus dem Wege, um
sich zu der ernsteren Kraft und Schönheit der Reife-
zeit durchzuringen. Diese Beschränkungen seiner
Natur sind jedoch die Kehrseite einer glücklichen
Begabung, die es ihm ermöglicht, ohne sich Zwang
anzutun und ohne Anstrengung zu produzieren,

und bis jetzt ist noch kein Nachlassen seines Far-
benreizes und seiner Erfindungsgabe zu verspüren.
Vanessa Bell hat mit Grant gemeinsam Dekorations-
entwürfe ausgeführt und ähnelt ihm als künst-
lerische Individualität in vieler Beziehung. Seit
1919 steht die London Group an erster Stelle
unter den fortschrittlichen Künstlervereinigungen,
und zählt Gertler, Meninski, Matthew Smith (einen
Schüler von Matisse), Porter, Seabrooke, Rupert
Lee zu ihren Mitgliedern. Ihr hervorragender lite-
rarischer Apostel ist Roger Fry, der scharfsinnigste,
intuitivste und dabei unterrichtetste Repräsentant
der englischen Kunstkritik; und doch stellen Maler
wie Sickert, Paul und John Nash und Ethelbert
White, die ganz bewußt von seinen Theorien ab-
weichen, gemeinsam mit der London Group aus.

Mark Gertler gehört zu einer ganzen Reihe
junger jüdischer Künstler, die über den Durch-
schnitt hervorragen. Er ist ein individueller Maler,
der sein Ziel mit großer Zähigkeit verfolgt, und
der ein starkes Gefühl für Rhythmus und Plastik
der Form besitzt. In letzter Zeit scheint er sein
Augenmerk hauptsächlich auf eine sorgsame Detail-
lierung und Durchführung in der Komposition und
eine prächtige Farbengebung zu richten, in solchem
Maße, daß hier und da die Bewegtheit und Leben-
digkeit des Bildes zu kurz kommt, während er oft
wiederum gerade auf diesem Wege eine tiefe und
bedeutende Wirkung zu erzielen weiß.

Zwischen 1913 und 1914 schlössen sich die
jungen Maler, die sich vor allem in der abstrakten
Komposition und Konstruktion versuchten, als
„Vorticisten" zusammen, unter denen Wyndham
Lewis als der begabteste und hervorragendste zu
nennen ist; auch einzelne Bildhauer, wie Epstein
und Gouder-Brjeska, traten der Gruppe bei. Unter
dem Wahrzeichen des Kubismus mit einem kleinen
Beigeschmack von Futurismus ihre Kunstziele ver-
folgend, war es ihr hervorragendstes Streben, die
abstrakte Komposition und den Ausdruck intellek-
tueller Energie durch die dem erwählten Stoff
innewohnenden Eigenschaften zu erreichen mit der
Charakterstärke, die der gesunden, englischen Rasse
und Individualität eigentümlich ist, und mit dem
festen Willen keiner der italienischen oder franzö-
sischen Kunstbewegungen sklavisch zu folgen;
Wyndham Lewis schrieb im Blast, dem Organ
der Vorticisten: „Hinter jedem Phänomen verbirgt
"sich eine einfache, ewige Form; unser heutiges

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