ANTINOMIEN DER KUPFERSTICHKRITIK
Eine so sehr dem Subjektiven verhaftete wissenschaftliche Tätigkeit wie Stil-
kritik ist nicht selten der Gefahr ausgesetzt, in Willkür überzugehen. Wo alles
auf die „nicht erlernbare, intuitive Blickbegabung" anzukommen scheint, da ist
schwer zu rechten. Letzten Endes entscheidet die Autorität, mit ihr steht und
fällt auch die Methode.
Allein, nirgends hat sich - wie ich mich nachzuweisen anschicke - der Mangel
methodischer Kritik so bitter gerächt wie in der Erforschung der anonymen
Stiche des 15. Jahrhunderts. Soll die wissenschaftliche Bearbeitung dieser wich-
tigen Epoche eine Fortführung finden, so ist es unumgänglich, von der bloßen
Handhabung der Stilkritik zu methodischer Klärung, zur Bestimmung der Gren-
zen dieses feinen Instruments weiterzuschreiten.
Was bisher geleistet wurde, stand unter dem Zeichen naturalistischer Kunst-
betrachtung. Auf diesem Wege ist manches zu erreichen, aber es ist gefährlich,
die Untersuchung ausschließlich von diesem Gesichtspunkt aus zu führen. Beob-
achtungen dieser Art können höchstens zu einer nachträglichen Bestätigung
dessen herangezogen werden, was zuvor intuitiv erkannt wurde. Noch gefähr-
licher aber ist es, den Maßstab des Naturalismus zum Wertmesser zu machen.
In der Beurteilung der Anonymen des 15. Jhs. muß dies zu groben Irrtümern
führen. Die mehr oder weniger größere Naturnähe, die mehr oder weniger
genaue Beobachtung des optischen Tatbestandes bildet nur einen Teil der form-
bildenden Faktoren. Naturnah kann auch ein „Stümper" der Graphik sein, das
Einzigartige der Kupferstiche des 15. Jhs. ist damit in keiner Weise erklärt.
Das sind gewiß keine Neuigkeiten. Abgesehen von der Entwicklung der Kunst-
betrachtung, die durch die Wandlungen der Kunst unserer Zeit fast automatisch
hervorgerufen wurde, ist z. B. in Wölfflins kunstgeschichtlichen Grundbegriffen
ausdrücklich auf das Problem hingewiesen. Daß es notwendig erscheint, in der
Kupferstichforschung im besonderen der neuen und richtigeren Betrachtungs-
weise zum Durchbruch zu verhelfen, hängt mit der eigentümlichen Situation
zusammen, in der sich diese befindet.
Sie ruht fast ausschließlich auf der Arbeit zweier sehr namhafter Gelehrter,
Max Lehrs und Max Geisb erg1). Eine merkwürdige Scheu scheint andere Forscher
von eingehender Beschäftigung mit der Materie abgehalten zu haben. Selbst
Friedländer2), der freilich ein gewisses Unbehagen nicht ganzunterdrücken kann,
wahrt respektvoll Abstand, indem er von „subtilen, stecherischen und zeichnerischen
Merkmalen" spricht, „von einer Geheimwissenschaft, die hier entstehe". Vor allem mag
es die Achtung vor umfassender, auf jahrelanger Spezialisierung beruhender
Kenntnis der Originale gewesen sein, die Reserve heischte. Allerdings ohne trif-
, Im folgenden werden unter den Verfassernamen die beiden Werke zitiert: Max Lehrs,
Geschichte und kritischer Katalog des deutschen, niederländischen und französischen Kupfer-
stichs im XV. Jahrhundert, Wien 1908, und Max Geisberg, Die Anfänge des Kupferstiches,
II. Aufl., Leipzig (1923).
2) Jahrbuch für Kunstwissenschaft 1923, S. 308.
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Eine so sehr dem Subjektiven verhaftete wissenschaftliche Tätigkeit wie Stil-
kritik ist nicht selten der Gefahr ausgesetzt, in Willkür überzugehen. Wo alles
auf die „nicht erlernbare, intuitive Blickbegabung" anzukommen scheint, da ist
schwer zu rechten. Letzten Endes entscheidet die Autorität, mit ihr steht und
fällt auch die Methode.
Allein, nirgends hat sich - wie ich mich nachzuweisen anschicke - der Mangel
methodischer Kritik so bitter gerächt wie in der Erforschung der anonymen
Stiche des 15. Jahrhunderts. Soll die wissenschaftliche Bearbeitung dieser wich-
tigen Epoche eine Fortführung finden, so ist es unumgänglich, von der bloßen
Handhabung der Stilkritik zu methodischer Klärung, zur Bestimmung der Gren-
zen dieses feinen Instruments weiterzuschreiten.
Was bisher geleistet wurde, stand unter dem Zeichen naturalistischer Kunst-
betrachtung. Auf diesem Wege ist manches zu erreichen, aber es ist gefährlich,
die Untersuchung ausschließlich von diesem Gesichtspunkt aus zu führen. Beob-
achtungen dieser Art können höchstens zu einer nachträglichen Bestätigung
dessen herangezogen werden, was zuvor intuitiv erkannt wurde. Noch gefähr-
licher aber ist es, den Maßstab des Naturalismus zum Wertmesser zu machen.
In der Beurteilung der Anonymen des 15. Jhs. muß dies zu groben Irrtümern
führen. Die mehr oder weniger größere Naturnähe, die mehr oder weniger
genaue Beobachtung des optischen Tatbestandes bildet nur einen Teil der form-
bildenden Faktoren. Naturnah kann auch ein „Stümper" der Graphik sein, das
Einzigartige der Kupferstiche des 15. Jhs. ist damit in keiner Weise erklärt.
Das sind gewiß keine Neuigkeiten. Abgesehen von der Entwicklung der Kunst-
betrachtung, die durch die Wandlungen der Kunst unserer Zeit fast automatisch
hervorgerufen wurde, ist z. B. in Wölfflins kunstgeschichtlichen Grundbegriffen
ausdrücklich auf das Problem hingewiesen. Daß es notwendig erscheint, in der
Kupferstichforschung im besonderen der neuen und richtigeren Betrachtungs-
weise zum Durchbruch zu verhelfen, hängt mit der eigentümlichen Situation
zusammen, in der sich diese befindet.
Sie ruht fast ausschließlich auf der Arbeit zweier sehr namhafter Gelehrter,
Max Lehrs und Max Geisb erg1). Eine merkwürdige Scheu scheint andere Forscher
von eingehender Beschäftigung mit der Materie abgehalten zu haben. Selbst
Friedländer2), der freilich ein gewisses Unbehagen nicht ganzunterdrücken kann,
wahrt respektvoll Abstand, indem er von „subtilen, stecherischen und zeichnerischen
Merkmalen" spricht, „von einer Geheimwissenschaft, die hier entstehe". Vor allem mag
es die Achtung vor umfassender, auf jahrelanger Spezialisierung beruhender
Kenntnis der Originale gewesen sein, die Reserve heischte. Allerdings ohne trif-
, Im folgenden werden unter den Verfassernamen die beiden Werke zitiert: Max Lehrs,
Geschichte und kritischer Katalog des deutschen, niederländischen und französischen Kupfer-
stichs im XV. Jahrhundert, Wien 1908, und Max Geisberg, Die Anfänge des Kupferstiches,
II. Aufl., Leipzig (1923).
2) Jahrbuch für Kunstwissenschaft 1923, S. 308.
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