S. GUYER, Vom Wesen der byzantinischen Kunst (Münchner Jahrbuch der
bild. Kunst VIII/2, 1931).
I. Tn der Geschichte der byzantinischen Kunst hat die Wesensuntersuchung
noch keine festen Wurzeln gefaßt, wie es z. B. in der Geschichte der europäischen
Kunst schon längst geschehen ist. Die wenigen veröffentlichten stilkritisch ein-
gestellten Arbeiten bleiben nur vereinzelte Versuche. Um so wertvoller ist ein
Aufsatz, der sich die Aufgabe stellt, das Wesen der byzantinischen Kunst zu
untersuchen, um so kritischer und gründlicher muß er gerade deshalb besprochen
werden. Ganz besonders in unserem Falle, wo der Verf. ein archäologisch ein-
gestellter Kunsthistoriker ist, der den Orient mehrmals besucht, viele wichtige
Ruinen aus byzantinischer Zeit, hauptsächlich in Mesopotamien und Kleinasien,
sehr eingehend durchforscht und sich dabei als sehr gründlicher Fachmann er-
wiesen hat, dem es dank einer großen Beobachtungsgabe gelungen ist, in exak-
ter Forschung viele wichtige neue Tatsachen festzustellen. Damit ist aber nicht
gesagt, daß es dem Verf. gelingen muß, auch im Gebiete der Wesensforschung
zu ebenso erfreulichen Ergebnissen zu kommen, denn die Wesensforschung hat
ihren eigenen Gegenstand und ihre eigene Methode.
G. will vom Wesen der byzantinischen Kunst sprechen. Zu wissenschaftlichen
Ergebnissen über das Wesen der Kunst führt ein einziger Weg: die Struktur-
analyse. G.s Aufsatz ist als allgemeine Zusammenfassung begreiflicherweise
ziemlich kurz. Dennoch bleibt es Aufgabe der Kritik, festzustellen, ob die Behaup-
tungen des Verf. das Resultat einer Strukturanalyse, somit ein wissenschaft-
liches Resultat wiedergeben, oder vor der Strukturanalyse entstanden sind, und
als solche nur eine, vielleicht auch sehr glaubwürdige, aber doch nur subjektive
Hypothese darstellen.
2. G.s Darstellung gipfelt darin, daß die byzantinische Kunst als eine malerische
Kunst charakterisiert wird. Ihr wird die antike als eine plastische Kunst gegen-
übergestellt. Dabei wird auf S. 130 gesagt, daß das Malerische in Byzanz ,,. . . uns
nicht überall in voller Reinheit entgegentritt..."; man darf deshalb vermuten,
daß in den bezeichnendsten byzantinischen Kunstwerken das Malerische sogar
„in voller Reinheit" beobachtet werden könnte.
In dieser Form eines nicht auf der Strukturanalyse begründeten allgemeinen
Gedankens ist diese Behauptung nicht neu. Um nur einige zufällige Beispiele
zu nennen, erinnere ich an das bekannte Buch von Cohn-Wiener über die all-
gemeine Entwicklung der Kunst und an G. Millet (L'ecole grecque dans l'ar-
chitecture byzantine, Paris 1916), wo es von der Konstantinopler Bauart heißt:
,,. . . un gout veritablement hellenistique pour les lignes souples, les transitions
attenues, les combinaisons ingenieuses, l'effet pittoresque" (S. 292).
Solche Behauptungen sind höchst unbestimmt und ungenau. Die Bezeichnung
der byzantinischen Kunst durch das Wort „malerisch" führt uns nicht weit
vorwärts. Was versteht G. unter der Bezeichnung „malerisch"? Wie verfolgt und
entwickelt er seine Beweisführung an den konkreten Kunstwerken nach den
grundlegenden Problemen?
193
bild. Kunst VIII/2, 1931).
I. Tn der Geschichte der byzantinischen Kunst hat die Wesensuntersuchung
noch keine festen Wurzeln gefaßt, wie es z. B. in der Geschichte der europäischen
Kunst schon längst geschehen ist. Die wenigen veröffentlichten stilkritisch ein-
gestellten Arbeiten bleiben nur vereinzelte Versuche. Um so wertvoller ist ein
Aufsatz, der sich die Aufgabe stellt, das Wesen der byzantinischen Kunst zu
untersuchen, um so kritischer und gründlicher muß er gerade deshalb besprochen
werden. Ganz besonders in unserem Falle, wo der Verf. ein archäologisch ein-
gestellter Kunsthistoriker ist, der den Orient mehrmals besucht, viele wichtige
Ruinen aus byzantinischer Zeit, hauptsächlich in Mesopotamien und Kleinasien,
sehr eingehend durchforscht und sich dabei als sehr gründlicher Fachmann er-
wiesen hat, dem es dank einer großen Beobachtungsgabe gelungen ist, in exak-
ter Forschung viele wichtige neue Tatsachen festzustellen. Damit ist aber nicht
gesagt, daß es dem Verf. gelingen muß, auch im Gebiete der Wesensforschung
zu ebenso erfreulichen Ergebnissen zu kommen, denn die Wesensforschung hat
ihren eigenen Gegenstand und ihre eigene Methode.
G. will vom Wesen der byzantinischen Kunst sprechen. Zu wissenschaftlichen
Ergebnissen über das Wesen der Kunst führt ein einziger Weg: die Struktur-
analyse. G.s Aufsatz ist als allgemeine Zusammenfassung begreiflicherweise
ziemlich kurz. Dennoch bleibt es Aufgabe der Kritik, festzustellen, ob die Behaup-
tungen des Verf. das Resultat einer Strukturanalyse, somit ein wissenschaft-
liches Resultat wiedergeben, oder vor der Strukturanalyse entstanden sind, und
als solche nur eine, vielleicht auch sehr glaubwürdige, aber doch nur subjektive
Hypothese darstellen.
2. G.s Darstellung gipfelt darin, daß die byzantinische Kunst als eine malerische
Kunst charakterisiert wird. Ihr wird die antike als eine plastische Kunst gegen-
übergestellt. Dabei wird auf S. 130 gesagt, daß das Malerische in Byzanz ,,. . . uns
nicht überall in voller Reinheit entgegentritt..."; man darf deshalb vermuten,
daß in den bezeichnendsten byzantinischen Kunstwerken das Malerische sogar
„in voller Reinheit" beobachtet werden könnte.
In dieser Form eines nicht auf der Strukturanalyse begründeten allgemeinen
Gedankens ist diese Behauptung nicht neu. Um nur einige zufällige Beispiele
zu nennen, erinnere ich an das bekannte Buch von Cohn-Wiener über die all-
gemeine Entwicklung der Kunst und an G. Millet (L'ecole grecque dans l'ar-
chitecture byzantine, Paris 1916), wo es von der Konstantinopler Bauart heißt:
,,. . . un gout veritablement hellenistique pour les lignes souples, les transitions
attenues, les combinaisons ingenieuses, l'effet pittoresque" (S. 292).
Solche Behauptungen sind höchst unbestimmt und ungenau. Die Bezeichnung
der byzantinischen Kunst durch das Wort „malerisch" führt uns nicht weit
vorwärts. Was versteht G. unter der Bezeichnung „malerisch"? Wie verfolgt und
entwickelt er seine Beweisführung an den konkreten Kunstwerken nach den
grundlegenden Problemen?
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