EDUARD COUDENHOVE-ERTHAL, Carlo Fontana und die Archi-
tektur des römischen Spätbarocks. — Wien, Schroll. 1930.
Es ist nicht genügend verstanden oder nicht genügend berücksichtigt, daß
überall dort, wo heute von Kunsthistorikern wissenschaftlich gearbeitet wird,
zwei ganz verschiedene Kunstwissenschaften nebeneinander entstehen. Vollendet
würde die eine alle Erkenntnisse enthalten, die gewinnbar sind, ohne daß man die
Kunstwerke als Kunstwerke versteht, also zum Beispiel durch Zuordnungen von
Daten zu Kunstwerken, Rekonstruktionen des äußeren Bestandes der Werke,
Vergleichung von Werken nach außerkünstlerischen Gesichtspunkten usw. Die
andere Kunstwissenschaft, die zweite, sucht jene Erkenntnisse für die das Ver-
stehen der Kunstgebilde als solcher Voraussetzung ist, sucht dieses Verstehen
selbst. Sie steht in den Anfängen, während die erste abschließende Leistungen
kennt; erst beide zusammen würden eine echte und vollständige K^/wissen-
schaft bilden. - Die Anerkennung dieser Sachlage ist Bedingung für eine gerechte
Beurteilung des Geleisteten in jedem besonderen Fall.
Das vorliegende Buch - vom Verlag solid und sachlich ausgestattet - ist eine
sehr gute Leistung der ersten Kunstwissenschaft und in dieser ein abschließendes
Werk. Man wird es ergänzen - (so durch die von Wittkower entdeckten Zeich-
nungen Fontanas in London) - es ist noch mit ein Kennzeichen von Arbeiten der
ersten Kunstwissenschaft additiv ergänzbar zu sein wie Markenalbums — ein
zweites Buch dieser Art über Fontana ist dadurch absolut überflüssig geworden.
Aber so wie z. B. Hempels Borromini Monographie verlangt auch diese Arbeit
nach einer Ergänzung durch eine Monographie der zweiten Kunstwissenschaft
über dasselbe (äußere) Thema. Erst beide zusammen würden alles enthalten, was
wir heute über Fontana wissen können.
Monographien dieser zweiten Art müssen immer wieder neu geschrieben
werden; es ist deshalb günstig, daß es für Fontana noch keine Theorie seiner Kunst
gibt. Die Skizzen der Kunst Fontanas bei Gurlitt, bei Escher (Thieme-Beckers
Künstlerlexikon XII, 1916) und jetzt bei Coudenhove sind so wenig konkret und
so blaß, daß man sie gar nicht erst „ausradieren" muß. Zu einer künftigen Mono-
graphie der Kunst Carlo Fontanas sollen die folgenden Andeutungen Beobach-
tungsmaterial vorbereiten.
Solange man, ohne ihre Gestaltungsprinzipien verstanden zu haben, die Werke
der Reihe nach betrachtet, würde man nicht leicht darauf kommen, daß dieser
manchmal geradezu beklemmend öde Akademiker-Opportunist Ideen haben
konnte, die zwischen Borromini und Fischer von Erlach zu den neuesten und
wesentlichsten gehören. Wahrscheinlich würde man dann San Marcello für das
Hauptwerk halten - die gefälligste Edition kursierender Gedanken Berninis. Das
wahre Hauptwerk der Frühzeit ist aber (unter den bisher bekannten) San Biagio
in Campitelli. Entscheidend für das Verständnis' ist es, zu sehen, daß das obere
Stockwerk eine andere räumliche Entfaltung des unteren ist und für einen Be-
trachter aus großer Distanz in eine Wiederholung des ersten Stockwerks übergeht;
man sieht das sehr schön an dem Aufriß bei Rossi (Studio). Über dem invarianten
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tektur des römischen Spätbarocks. — Wien, Schroll. 1930.
Es ist nicht genügend verstanden oder nicht genügend berücksichtigt, daß
überall dort, wo heute von Kunsthistorikern wissenschaftlich gearbeitet wird,
zwei ganz verschiedene Kunstwissenschaften nebeneinander entstehen. Vollendet
würde die eine alle Erkenntnisse enthalten, die gewinnbar sind, ohne daß man die
Kunstwerke als Kunstwerke versteht, also zum Beispiel durch Zuordnungen von
Daten zu Kunstwerken, Rekonstruktionen des äußeren Bestandes der Werke,
Vergleichung von Werken nach außerkünstlerischen Gesichtspunkten usw. Die
andere Kunstwissenschaft, die zweite, sucht jene Erkenntnisse für die das Ver-
stehen der Kunstgebilde als solcher Voraussetzung ist, sucht dieses Verstehen
selbst. Sie steht in den Anfängen, während die erste abschließende Leistungen
kennt; erst beide zusammen würden eine echte und vollständige K^/wissen-
schaft bilden. - Die Anerkennung dieser Sachlage ist Bedingung für eine gerechte
Beurteilung des Geleisteten in jedem besonderen Fall.
Das vorliegende Buch - vom Verlag solid und sachlich ausgestattet - ist eine
sehr gute Leistung der ersten Kunstwissenschaft und in dieser ein abschließendes
Werk. Man wird es ergänzen - (so durch die von Wittkower entdeckten Zeich-
nungen Fontanas in London) - es ist noch mit ein Kennzeichen von Arbeiten der
ersten Kunstwissenschaft additiv ergänzbar zu sein wie Markenalbums — ein
zweites Buch dieser Art über Fontana ist dadurch absolut überflüssig geworden.
Aber so wie z. B. Hempels Borromini Monographie verlangt auch diese Arbeit
nach einer Ergänzung durch eine Monographie der zweiten Kunstwissenschaft
über dasselbe (äußere) Thema. Erst beide zusammen würden alles enthalten, was
wir heute über Fontana wissen können.
Monographien dieser zweiten Art müssen immer wieder neu geschrieben
werden; es ist deshalb günstig, daß es für Fontana noch keine Theorie seiner Kunst
gibt. Die Skizzen der Kunst Fontanas bei Gurlitt, bei Escher (Thieme-Beckers
Künstlerlexikon XII, 1916) und jetzt bei Coudenhove sind so wenig konkret und
so blaß, daß man sie gar nicht erst „ausradieren" muß. Zu einer künftigen Mono-
graphie der Kunst Carlo Fontanas sollen die folgenden Andeutungen Beobach-
tungsmaterial vorbereiten.
Solange man, ohne ihre Gestaltungsprinzipien verstanden zu haben, die Werke
der Reihe nach betrachtet, würde man nicht leicht darauf kommen, daß dieser
manchmal geradezu beklemmend öde Akademiker-Opportunist Ideen haben
konnte, die zwischen Borromini und Fischer von Erlach zu den neuesten und
wesentlichsten gehören. Wahrscheinlich würde man dann San Marcello für das
Hauptwerk halten - die gefälligste Edition kursierender Gedanken Berninis. Das
wahre Hauptwerk der Frühzeit ist aber (unter den bisher bekannten) San Biagio
in Campitelli. Entscheidend für das Verständnis' ist es, zu sehen, daß das obere
Stockwerk eine andere räumliche Entfaltung des unteren ist und für einen Be-
trachter aus großer Distanz in eine Wiederholung des ersten Stockwerks übergeht;
man sieht das sehr schön an dem Aufriß bei Rossi (Studio). Über dem invarianten
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