lauf der behandelten Epoche erwachsen sind, zu Recht bestehen, kann hier nicht
erörtert werden. Wenn Kaschnitz gegenüber dem Rieglschen Begriffssystem eine
neue Beweglichkeit der begrifflichen Mittel für erforderlich hält und diese durch
eine neue Hingabe an das zu erforschende Objekt erlangen will, um zu erfahren,
was das Kunstwerk von sich selbst auszusagen vermag, so ist das sicherlich eine
Forderung, die die Kunstgeschichte stets wieder von neuem zu erfüllen trachten
muß. Erst aus der empirischen Arbeit der weiteren kunstgeschichtlichen For-
schung in neuer Blickrichtung wird festgestellt werden können, wieviel von dem
Grundriß der Rieglschen Lehren beibehalten werden kann.
Freiburg i. Br., März 1931 Hans Jantzen
GRIECHISCHE FORM IM MITTELALTER
WILHELM WORRINGER, Griechentum und Gotik; vom Weltreich des
Hellenismus. - R. Piper & Co. 1928.
Der schon zersetzte Formbereich der Mittelmeerkunst wird völlig umgebrochen
mit dem Einsetzen der Völkerwanderung. Trotzdem sieht man die Antike als
gebrochene Form miteingehen in die Werke mittelalterlicher Kunst. Das ist oft
vermerkt worden in kunstgeschichtlichen Untersuchungen. Aber von welcher
Art ist dieser Bruch? Und: worin besteht die Bedeutung der Tatsache, daß diese
Fragmente und „Ruinen" der Antike im mittelalterlichen Formsystem eine innere
Standfestigkeit bewahren, die man sonst nur dem unberührten und in einem
durchgängigen geistigen Zusammenhang lebendig gebliebenen Formgebilde zu-
zuschreiben pflegt? Von einer offenen, klar zutage tretenden Lebendigkeit der
Antike im Mittelalter kann man aber wohl nicht reden. Diese Fragen zu verfolgen,
dürfte als Aufgabe noch fast ungeschmälert fortbestehen.
Der Übergang antiker Formstücke in die christliche Formwelt ergab sich auf
zweierlei Art. Die Überlieferung des antiken Schrifttums, besonders aber die
Benutzung philosophischer, vorwiegend kosmologischer wie mythologischer
Thesen und Darlegungen in den patristischen Schriften brachte die Übernahme
ganzer Bildgestalten des Altertums mit sich. So finden sich in den Miniaturen
bildliche Darstellungen, die als &^^gseinheiten dem antiken Traditionsbrach-
feld enthoben wurden und als Zeichen inhaltlicher, fest zugeordneter Denkweisen
oder besser: Denkfiguren gelten müssen, mögen sie auch ihrer visuellen Fügung
nach völlig deformiert sein. Doch ihre Deformierung ist bereits die Anzeige
einer Sinn-Änderung, einer neuen Anwendung, durch die das übernommene,
im Groben gleich gebliebene Motiv von den tragenden ideellen „Figuren,, et-
was anderes abzeichnet als ursprünglich. Solche Darstellungen sind also Form-
gebilde, die durchaus nur als deformierte Gehaltganzheiten, nicht als gehaltlich
bedingte Formganzheiten den Stempel ihrer Herkunft spüren lassen. Mit einer
solchen denksystematischen Restbindung gehen ganze Formkonstellationen an-
Eine kürzere Fassung dieses Aufsatzes erschien 1929 in der Zeitschrift „Die Schild-
genossen". Red.
74
erörtert werden. Wenn Kaschnitz gegenüber dem Rieglschen Begriffssystem eine
neue Beweglichkeit der begrifflichen Mittel für erforderlich hält und diese durch
eine neue Hingabe an das zu erforschende Objekt erlangen will, um zu erfahren,
was das Kunstwerk von sich selbst auszusagen vermag, so ist das sicherlich eine
Forderung, die die Kunstgeschichte stets wieder von neuem zu erfüllen trachten
muß. Erst aus der empirischen Arbeit der weiteren kunstgeschichtlichen For-
schung in neuer Blickrichtung wird festgestellt werden können, wieviel von dem
Grundriß der Rieglschen Lehren beibehalten werden kann.
Freiburg i. Br., März 1931 Hans Jantzen
GRIECHISCHE FORM IM MITTELALTER
WILHELM WORRINGER, Griechentum und Gotik; vom Weltreich des
Hellenismus. - R. Piper & Co. 1928.
Der schon zersetzte Formbereich der Mittelmeerkunst wird völlig umgebrochen
mit dem Einsetzen der Völkerwanderung. Trotzdem sieht man die Antike als
gebrochene Form miteingehen in die Werke mittelalterlicher Kunst. Das ist oft
vermerkt worden in kunstgeschichtlichen Untersuchungen. Aber von welcher
Art ist dieser Bruch? Und: worin besteht die Bedeutung der Tatsache, daß diese
Fragmente und „Ruinen" der Antike im mittelalterlichen Formsystem eine innere
Standfestigkeit bewahren, die man sonst nur dem unberührten und in einem
durchgängigen geistigen Zusammenhang lebendig gebliebenen Formgebilde zu-
zuschreiben pflegt? Von einer offenen, klar zutage tretenden Lebendigkeit der
Antike im Mittelalter kann man aber wohl nicht reden. Diese Fragen zu verfolgen,
dürfte als Aufgabe noch fast ungeschmälert fortbestehen.
Der Übergang antiker Formstücke in die christliche Formwelt ergab sich auf
zweierlei Art. Die Überlieferung des antiken Schrifttums, besonders aber die
Benutzung philosophischer, vorwiegend kosmologischer wie mythologischer
Thesen und Darlegungen in den patristischen Schriften brachte die Übernahme
ganzer Bildgestalten des Altertums mit sich. So finden sich in den Miniaturen
bildliche Darstellungen, die als &^^gseinheiten dem antiken Traditionsbrach-
feld enthoben wurden und als Zeichen inhaltlicher, fest zugeordneter Denkweisen
oder besser: Denkfiguren gelten müssen, mögen sie auch ihrer visuellen Fügung
nach völlig deformiert sein. Doch ihre Deformierung ist bereits die Anzeige
einer Sinn-Änderung, einer neuen Anwendung, durch die das übernommene,
im Groben gleich gebliebene Motiv von den tragenden ideellen „Figuren,, et-
was anderes abzeichnet als ursprünglich. Solche Darstellungen sind also Form-
gebilde, die durchaus nur als deformierte Gehaltganzheiten, nicht als gehaltlich
bedingte Formganzheiten den Stempel ihrer Herkunft spüren lassen. Mit einer
solchen denksystematischen Restbindung gehen ganze Formkonstellationen an-
Eine kürzere Fassung dieses Aufsatzes erschien 1929 in der Zeitschrift „Die Schild-
genossen". Red.
74