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Kritische Berichte zur kunstgeschichtlichen Literatur — 3-4.1930-1932

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Linfert, Carl: Griechische Form im Mittelalter: Wilhelm Worringer : Griechentum und Gotik
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https://doi.org/10.11588/diglit.71972#0089

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tiker Herkunft „verkümmert" (also ohne formbindenden Systemzusammenhalt)
durch das Mittelalter. Von dieser Art Nachwachsen der antiken „Bilder" (Bedeu-
tungsbilder) soll hier weniger die Rede sein als von der zweiten Art antiker Form-
vererbung, die sinnliche Teileinheiten - aus dem Umkreis der organischen Orna-
mentik und der bildplastischen Figürlichkeit - durchläßt bis in den neuen Gestalt-
typus christlicher Kunstform. Diesen Typus mag man allgemein und grundsätzlich
als einen Aufbau strenger und nicht nur visuell deutbarer Zeichen verstehen, die
der Vision einer jenseitigen Ordnung der Welt dienen. Mindestens seit dem
6. Jahrhundert (falls man etwa für die vorhergehende Zeit hypothetisch nur ein
abflauendes Nachwehen der Antike zugeben möchte) erhebt sich in diesem Auf-
bau immer wieder eine antikische Leibhaftigkeit und „Schönheit" der Form.
Unter hilfloser Andeutung, oft auch in unmerklicher Angleichung an die neue
christliche Ordnung der Kunstform pulsiert eine volle, sinnliche Form. Sie besteht
nicht von sich aus, sondern dringt immer da ein, wo das bildliche oder bauliche
Liniengerüst mit den Zeichen des Heiligen und des ihm gehörigen absoluten, über-
natürlichen und also unplastischen Raumes sich nur ein wenig lockert. Immer ist
dies eine leise Möglichkeit für das Plastische und für die organische Füllung von
vorher „abstrakten" Kurven. Mitten im Gewände romanischer Portale erscheint
die Spätantike Ranke, an Sockelrändern der „flache" wie der „perspektivisch
schräge" Mäander, in Kapitellen die Palmette, in der Apsis kehren die Arkadenfriese
von Triumphbogen wieder, Pfeiler werden kanneliert, Gestus und Gewandung
greifen den antiken Duktus wieder auf. Und trotzdem bleibt die neue, von einem
unirdischen Raum her anhebende Determination des christlichen Gestaltungs-
systems durchgehend und völlig erhalten. Dahin also ist die antike Form gestellt,
die insgesamt längst tot war und versprengt immer noch lebte. Sie ist nicht sie
selbst, aber trägt eine deutliche Spur von ihr. Man darf eher von einem Nachhall
oder einem Durchbruch, einem unwillkürlichen Wiederfinden des Begrabenen
sprechen als von einem „Mißverständnis". Aber: wodurch ist diese verkapselte
(parasitäre oder fruchtbare ?) Nachantike legitimiert? Wodurch kommt es, daß sie
überhaupt noch an dieser Stelle sich hält?
Es ist die Frage, ob man den geistigen Sinn und Plan der Kunst, die seit Ein-
tritt des Christentums in die Geschichte sich aus Trümmern langsam bildete,
deutlicher machen kann mit einem Hinweis auf die geistigen und formalen
Trümmer der Antike, die man lange noch kannte und mit hineinnahm in die
christliche Kunstform. Ist diese Form überhaupt Form, die mit dem natürlichen
Auge gesehen werden kann? Schon die bloß ästhetische Bedeutung einer Form ist
nicht durch das formlose „natürliche" Sehen zu erfassen. Ein solches Sehen liegt
außerhalb des Ästhetischen; es erfaßt das dargestellte Dinggebilde, nicht das Sinn-
gebilde, in dem erst eine Form sich gibt. Bei einer naturnahen Kunst mag es oft
scheinen, als hätte man mit solch dinghaftem, materiellem Sehen auch das Form-
gebilde erfaßt. Wenigstens ist oft nicht ohne weiteres zu unterscheiden, wie weit
die Erfassung geht. Vor einer Form aber, die von der „Naturnähe" oder krasser:
von einem materiell vorliegenden Gegenstand her nicht zu messen ist, hat diese

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