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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 52.1901-1902

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Lueer, Hermann: Das Fortschrittliche in der Kunsttischlerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.7007#0125

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Das Fortschrittliche in der Aunsttischlerei.

Zeit darauf hin, daß ein Mensch bequem darin !
sitzen soll. Keine Linie schmiegt sich der Lage des j
Körpers an, nur Ecken und Kanten und oft genug j
schmerzhaft drückende Vorsprünge, man mochte sich
mit Kissen helfen, so gut es ging. Man sieht in
den Stuhlformen ein Weiterleben der bis dahin im
Norden vorherrschend zum Ausruhen gebrauchten
festen Mandbank.

Schon im f6. und \7. Jahrhundert werden die
Stuhlkonstruktionen wesentlich leichter und die kantigen
Formen verschwinden mehr und mehr. Nur in gewissen
Teilen, besonders in den Armlehnen, wird aber in
diesen Jahrhunderten in Rücksicht auf den Körper auch
bereits die geradlinige Konstruktion durch leicht ge-
rundete Formen verdrängt. Die Konstruktion im
ganzen behält die klare Übersichtlichkeit der älteren
Zeit bei; ohne weiteres ist der Ansatz und die Art
der Fügung bei jedem Glieds zu erkennen.

Doch je näher man dem f8. Zahrhundert kommt,
um so mehr gewinnt das widerstrebende Material
Leben und Bewegung, und nicht lange währt es,
daß eine völlig neue Bau- und Konstruktionsweise
an die Stelle der im princip seit Jahrtausenden
geübten getreten ist. Das polz scheint veränderte
Fähigkeiten gewonnen zu haben, es scheint eine bild-
same, schmiegsame Materie geworden zu sein, dabei
von einer Festigkeit, die sich ein Meister des fö. Jahr-
hunderts schwerlich hätte träumen lassen.

Standfest waren die Stühle der Rokokoperiode
so gut wie die früheren auch, und ihre Dauerhaftigkeit
steht ebenfalls außer Frage, nur die Klarheit der
Konstruktion ist völlig verwischt, die Art der Fügung
ist nicht mehr erkennbar. Den Anforderungen, die
man zur Zeit ihrer Entstehung an sie stellte, ver-
mochten sie unter allen Umständen gerecht zu werden,
die Erfahrung hat es gelehrt. Und was nun gar
die Bequemlichkeit des Sitzens anbelangt, da muß
man sagen, daß alle Stühle früherer Jahrhunderte
von denen des \8. Jahrhunderts weit in den Schatten
gestellt werden.

Ausnahmen werden die hier geübte Kritik nicht
widerlegen können, eine bestimmte Entwicklung der
Konstruktion ist unverkennbar*). Aber mit dem rein
technischen Fortschritte, der gesteigerten Materialaus-
nutzung geht ein nicht minder hoch anzuschlagender
praktischer Fortschritt, die unendlich erhöhte Bequem-
lichkeit, das geringere Gewicht und anderes mehr

*)■ Man hätte in der Entwicklung beliebig weiter znrück-
greifen können, die Wandlungen würden, von gewissen Schwan-
kungen abgesehen, stets die gleiche Tendenz erkennen lassen.
Erinnert sei hier an die erhaltenen ägyptischen Stühle, deren
Verfertiger die einfache Zapfenverbindung nicht für ausreichend
ansahen, überall wurden noch, offenbar gewachsene Winkeleinsätze
zu ksilfe genommen.

pand in pand; das aber ist das Entscheidende und
für uns vor allem Lehrreiche.

U)ir stehen vor der Frage, ob wir der älteren,
schwerfälligen, steifen, unbequemeren Bauweise den
Vorzug vor der Konstruktionsweise des Rokoko
geben müssen nur ihrer größeren, aber übertriebenen
Solidität wegen. Mit der Erkenntnis, daß die Kon-
struktion bis zum Rokoko thatsächlich in jeder Be-
ziehung sortschreitet, ist eigentlich die Antwort ge-
geben. Durch vollkoinntene Ausnutzung der ge-
machten Erfahrungen uitd durch weitere Besiegung
des Materials müssen auch wir die Entwicklung
fördern; jedes grundsätzliche Verwerfen von techni-
schen Errungenschaften ist gleichbedeutend mit Still-
stand und Rückschritt.

Ohne weiteres ist dann auch klar, daß uns erst
durch die immer gesteigerte Materialbeherrschung die
Mittel in die pand gegeben sind, den neuzeitigen, un-
endlich mannigfaltigen Einzel- und Sonderansprüchen
in der Möbelkunst gerecht zu werden; die älteren
Konstruktionsweisen genügen einfach nicht mehr.

Das Fortschrittliche in der Tischlerei unserer Zeit
muß also zunächst in der Weiterführung der Bau-
principien, die das \8. Jahrhundert aufgestellt hat,
zu suchen sein, pat nun aber das fy. Jahrhundert
im pinblick auf die Möbelkunst das Erbe der Rokoko-
zeit auch wirklich gemehrt? Sind die Möbel der
Neuklassicisten, der Neugotiker und Neurenaissan-
cisten wirklich im gekennzeichneten Sinne als fort-
schrittlich zu bezeichnen? Gewiß nicht; das fst. Jahr-
hundert hat sich im Möbelbau abgesehen von
schwachen, im großen Strudel fast verschwundenen,
lebensvollen Unterströmungen — als ein stagnierendes,
rückschrittliches bewiesen. Man griff zu Konstruktionen,
die seit Jahrhunderten überwunden sind, man griff
dazu, nicht einmal eines bestimmten Zweckes wegen,
rnan stellte sie grundsätzlich als zuerst erforderlich
hin ; das war Rückschritt. Wirst man nun aber einen
Blick auf die jüngsten Erzeugnisse der Möbelkunst,
dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren,
daß neues Leben ins spröde polz gefahren zu sein
scheint; es scheint die bereits im f8. Jahrhundert
hinreichend erprobten Fähigkeiten wieder gewonnen zu
haben. Man denke an die Möbel eines Riemerschnrid,
Eckmann, v. Berlepsch, Paul Groß und Glbrich, an
die der Belgier van de Velde und Serrurier, an die
der Franzosen piumet, Gaillard, de Feure u. a.,
welch grundsätzlicher Gegensatz der Bauweise ist
daran auf den ersten Blick zu erkennen den bisher
im Jahrhundert gefertigten Möbeln gegenüber!
Zn unserer jungen Möbelkunst lebt der Geist des
Rokoko in konstruktiver pinsicht weiter, das bürgt
für weiteres Gedeihen.
 
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