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Erster Jahrgang.

Berlin den 15. Februar 1885.

No. 4.

DER KUNSTFREUND

Herausgegeben von Henry Thode

Erscheint am i. und 15. jeden Monats. Preis des Jahrgangs mit allen Beilagen 20 Mark.
Die Abonnenten des »Jahrbuchs der Königlich Preussischen Kunstsammlungen« erhalten den »Kunstfreund« gratis,
die Beilagen zu ermässigten Preisen.

DER JESAIAS IN DER KIRCHE SANT’
AGOSTINO ZU ROM
An einem Pfeiler im Mittelschifl’ von S. Ago-
stino zu Rom befindet sich, in Fresko ausgeführt,
eine Darstellung des Propheten Jesaias, als deren
Urheber — unbeanstandet, so viel ich sehe —
Raphael genannt wird. Man folgt hierin der An-
gabe Vasaris. Und zwar ist das Bild wegen eines
von Vasari mit seiner Entstehung in Verbindung
gebrachten Geschichtchens fast berühmter gewor-
den, als um seines künstlerischen Wertes willen.
Vasari ersählt: aus Misgunst gegen Michelangelo
habe zu einer Zeit, wo dieser den Anblick seiner
Malereien in der Sistina jedermann noch streng-
stens verwehrte, Bramante den Schlüssel zur
Kapelle heimlich seinem Günstling Raphael zu-
gesteckt, worauf dieser seinen bereits fertigen
Jesaias sogleich vernichtete, um ihn von neuem
zu malen, diesmal in dem vollkommeneren und
grösseren Stil, den er seinem Rivalen hinterrücks
abgewonnen.
Die neueren Raphaelbiographen haben diese
Entstehungsgeschichte des Bildes in S. Agostino
als unglaubhaft fallen lassen, aber die Autorschaft
Raphaels ziehen sie nicht in Zweifel: ein Ver-
fahren, das gegen eine anerkannte Regel der
historischen Kritik verstösst. Wenn ein Bericht
einmal getrübt erscheint, so darf man nicht bei
der Ausmerzung der unmittelbar anstössigen Be-
standteile stehen bleiben, sondern muss auch
die übrigen damit in Zusammenhang befindlichen
als verdächtig betrachten, solange als sie nicht
durch selbständige Momente anderweitig Unter-
stützung erhalten. — Im vorliegenden Falle gälte
es, da sonstige historische Zeugnisse fehlen, vor-
nehmlich, die innere künstlerische Beschaffenheit
des Bildes zu prüfen. Neuere Forscher haben
zwar erklärt, dass in Folge wiederholter Beschä-
digungen und Restaurationen, die über das Bild
gekommen sind, »jede feste Grundlage dem Urteil

fehlt«. So schnell, meine ich, darf man das kri-
tische Rüstzeug doch nicht in’s Korn werfen.
Mag man immerhin die Verfälschung des ursprüng-
lichen Gepräges als eine weitgehende sich denken,
so ist für die Annahme, dass das Bild bis in die
Hauptlinien der Komposition verändert worden,
kein Grund gegeben. Ja, wir werden sogleich
Umstände kennen lernen, welche einer solchen
Unterstellung positiv widersprechen.
Der Prophet ist sitzend dargestellt, eine Schrift-
rolle in beiden Händen; wie von einer plötzlichen
Inspiration durchschauert lässt er die Rolle halb
sinken, wendet den Kopf nach der entgegen-
gesetzten Seite; den rechten Arm lässt er in er-
hobener Haltung beharren, das linke Bein zieht
er an, als wolle er im nächsten Augenblick empor-
schnellen: das Ganze ein durchaus im Sinne der
plastischen Kunst erfundenes Motiv. Als Begleiter
zwei nackte Knaben, auf den Seitenlehnen der
Steinbank stehend, mit erhobenen Armen eine
Inschriftentafel über dem Kopfe des Propheten
haltend, eine Laubguirlande von Schulter zu
Schulter. (Stich von Bonajuta, reproduziert in
Gutbier-Lübke’s Raphael-Werk II. 66.)
Der Eindruck, den das Bild auf uns macht, ist
heute noch derselbe, den Vasari davon hatte: das
ist nicht Raphaels, es ist Michelangelos Art! Seine
Bedeutung wird durch den Hinweis A. Springers,
dass ein Anhänger Michelangelos, Daniele da
Volterra, die erste Restauration vorgenommen
habe, nicht abgeschwächt, da Vasari das Bild vor
der Herstellung gesehen hat, welche unter Papst
Paul IV. (1555-—59) vorgenommen wurde. In der
That, von der Art der Zusammenordnung des
Propheten mit dem Paare knabenhafter Genien,
bis zu der Durchbildung des Contraposto in der
Bewegung der Hauptfigur, der Gegenüberstellung
des nackten linken Beines gegen das unter Fal-
tenmassen verschwindende rechte, der ganzen
wuchtigen Körperlichkeit des Mannes u. s. w.
setzt Alles eindringende Studien an der Decke

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