Erster Jahrgang.
Berlin den 1. März 1885.
No. 5.
DER KUNSTFREUND
Herausgegeben von Henry Thode
Erscheint am i. und 15. jeden Monats. Preis des Jahrgangs mit allen Beilagen 20 Mark.
Die Abonnenten des »Jahrbuchs der Königlich Preussischen Kunstsammlungen« erhalten den »Kunstfreund« gratis,
die Beilagen zu ermässigten Preisen.
LEONARDOS AUFERSTEHUNG
CHRISTI
Eine zufällig gefundene Notiz ermöglicht es,
die Provenienz dieses Bildes wenigstens bis ins
17. Jahrhundert zurückzuverfolgen. In der zwei-
ten Auflage von Torre’s Ritratto di Milano (1714)
ist es auf S. 199 als in der Kirche der h. Liberata,
unweit vom Castell, befindlich angeführt und
also beschrieben: »un Cristo glorioso ascendendo i
eieli, e genuflessi in due lati gli Santi Leonardo
e Lucia.« In der ersten Auflage von 1674 (S. 213)
war die Heilige als Liberata bezeichnet worden;
ein Irrtum, der offenbar nur durch die Benen-
nung der Kirche veranlasst war, von Latuada
aber in seine Descrizione di Milano von 1738
(Bd. IV S. 428) mit herüber genommen wurde.
Beide genannte Schriftsteller führen dies Bild,
welches den Hochaltar schmückte, als ein Werk
des Bramantino an. Diese Notiz ist einfach zu
registrieren, bringt uns aber in der Kenntnis des
Autors nicht weiter; denn weder mit den früheren
(Anbetung des Christkindes in der Ambrosiana)
noch mit den späteren Arbeiten Bramantinos
(Melzisches Altarbild ebendaselbst, Fresken in der
Brera etc.), die allesamt frei von irgend welchen
Einflüssen Leonardos sind, zeigt es die geringste
Verwandtschaft. Vielleicht hat blos der Umstand,
dass die Kirche, in welcher sich das Bild befand,
nach Bramantes Plan erbaut war, darauf geführt, das
Bild seinem Schüler Bramantino zuzuschreiben.
Sei es gestattet, ohne weiteren Kommentar
einen Brief, den Prof. Jul. Lange in Kopenhagen
an Dr. Bode gerichtet hat, auszüglich mitzuteilen.
Es heisst darin: »Ich habe Ihnen schon bei
meiner letzten Anwesenheit in Berlin die Ansicht
entwickelt, dass nur die Figuren der zwei Heili-
gen unten im Bilde als originale Arbeit des grossen
Meisters gelten könnten, und dass die Christusfigur,
obwohl im Allgemeinen von Lionardoschem Cha-
rakter, doch den zwei anderen an künstlerischem
Werte, sowol in der Auffassung als in der ge-
naueren Durchführung erheblich nachstehe. Ich
stelle mir die Sache so vor, dass Lionardo, nach
Vollendung der zwei Figuren unten, das Bild
seinerseits aufgegeben und einem seiner Mailändi-
schen Schüler es überlassen habe, dasselbe viel-
leicht nach seinen Vorlagen und unter seiner
Leitung zu vollenden. Mag immerhin Vasaris
Ansicht, dass er niemals ein Bild eigentlich voll-
endete, übertrieben sein: jedenfalls war es doch
ein bedeutender Zug in seinem künstlerischen
Charakter, dass er es nur selten that. Wie wäre
es auch zu erklären, dass ein bedeutendes, von
ihm selbst fertiggestelltes Werk von der be-
wundernden Mit- und Nachwelt ganz vergessen
werden könnte?
»Es waren mir schon bei meiner Betrachtung
des Bildes im Museum einige Umstände aufge-
fallen , die mir einen gestörten Zusammenhang der
Komposition anzudeuten schienen. Die Christus-
figur, obschon sie sich auf einem weit ferneren
Plane befindet als die zwei knieenden Heiligen,
ist im Lichte noch kräftiger als dieselben ge-
halten — kann das von dem Begründer der
Luftperspektive und dem unermüdlichen Beob-
achter derselben herrühren? Die Stellungen der
Knieenden und die Richtung ihrer Aufmerksam-
keit beziehen sich nicht genau auf den schwe-
benden Christus.
»Kurz und gut: ist nicht die Komposition ur-
sprünglich darauf angelegt gewesen, dass ein
Kruzifix zwischen den Heiligen stehen sollte, ein
wenig ferner als sie, bei weitem aber nicht so
fern als der schwebende Christus? Dieser Christus
macht mir immer den Eindruck des schlecht
angebrachten, des kindischen und armseligen, im
Gegensatz zu dem geistvollen, feurigen, von dem
tiefsten Lionardoschen Bewusstsein erfüllten We-
sen der Heiligen des Vordergrundes.
»Mag immerhin diese Konjektur ein wenig ge-
wagt sein; jedenfalls glaube ich, dass ein Bruch
in der Entwickelung der Komposition vorliege«.
W. v. S.
5
Berlin den 1. März 1885.
No. 5.
DER KUNSTFREUND
Herausgegeben von Henry Thode
Erscheint am i. und 15. jeden Monats. Preis des Jahrgangs mit allen Beilagen 20 Mark.
Die Abonnenten des »Jahrbuchs der Königlich Preussischen Kunstsammlungen« erhalten den »Kunstfreund« gratis,
die Beilagen zu ermässigten Preisen.
LEONARDOS AUFERSTEHUNG
CHRISTI
Eine zufällig gefundene Notiz ermöglicht es,
die Provenienz dieses Bildes wenigstens bis ins
17. Jahrhundert zurückzuverfolgen. In der zwei-
ten Auflage von Torre’s Ritratto di Milano (1714)
ist es auf S. 199 als in der Kirche der h. Liberata,
unweit vom Castell, befindlich angeführt und
also beschrieben: »un Cristo glorioso ascendendo i
eieli, e genuflessi in due lati gli Santi Leonardo
e Lucia.« In der ersten Auflage von 1674 (S. 213)
war die Heilige als Liberata bezeichnet worden;
ein Irrtum, der offenbar nur durch die Benen-
nung der Kirche veranlasst war, von Latuada
aber in seine Descrizione di Milano von 1738
(Bd. IV S. 428) mit herüber genommen wurde.
Beide genannte Schriftsteller führen dies Bild,
welches den Hochaltar schmückte, als ein Werk
des Bramantino an. Diese Notiz ist einfach zu
registrieren, bringt uns aber in der Kenntnis des
Autors nicht weiter; denn weder mit den früheren
(Anbetung des Christkindes in der Ambrosiana)
noch mit den späteren Arbeiten Bramantinos
(Melzisches Altarbild ebendaselbst, Fresken in der
Brera etc.), die allesamt frei von irgend welchen
Einflüssen Leonardos sind, zeigt es die geringste
Verwandtschaft. Vielleicht hat blos der Umstand,
dass die Kirche, in welcher sich das Bild befand,
nach Bramantes Plan erbaut war, darauf geführt, das
Bild seinem Schüler Bramantino zuzuschreiben.
Sei es gestattet, ohne weiteren Kommentar
einen Brief, den Prof. Jul. Lange in Kopenhagen
an Dr. Bode gerichtet hat, auszüglich mitzuteilen.
Es heisst darin: »Ich habe Ihnen schon bei
meiner letzten Anwesenheit in Berlin die Ansicht
entwickelt, dass nur die Figuren der zwei Heili-
gen unten im Bilde als originale Arbeit des grossen
Meisters gelten könnten, und dass die Christusfigur,
obwohl im Allgemeinen von Lionardoschem Cha-
rakter, doch den zwei anderen an künstlerischem
Werte, sowol in der Auffassung als in der ge-
naueren Durchführung erheblich nachstehe. Ich
stelle mir die Sache so vor, dass Lionardo, nach
Vollendung der zwei Figuren unten, das Bild
seinerseits aufgegeben und einem seiner Mailändi-
schen Schüler es überlassen habe, dasselbe viel-
leicht nach seinen Vorlagen und unter seiner
Leitung zu vollenden. Mag immerhin Vasaris
Ansicht, dass er niemals ein Bild eigentlich voll-
endete, übertrieben sein: jedenfalls war es doch
ein bedeutender Zug in seinem künstlerischen
Charakter, dass er es nur selten that. Wie wäre
es auch zu erklären, dass ein bedeutendes, von
ihm selbst fertiggestelltes Werk von der be-
wundernden Mit- und Nachwelt ganz vergessen
werden könnte?
»Es waren mir schon bei meiner Betrachtung
des Bildes im Museum einige Umstände aufge-
fallen , die mir einen gestörten Zusammenhang der
Komposition anzudeuten schienen. Die Christus-
figur, obschon sie sich auf einem weit ferneren
Plane befindet als die zwei knieenden Heiligen,
ist im Lichte noch kräftiger als dieselben ge-
halten — kann das von dem Begründer der
Luftperspektive und dem unermüdlichen Beob-
achter derselben herrühren? Die Stellungen der
Knieenden und die Richtung ihrer Aufmerksam-
keit beziehen sich nicht genau auf den schwe-
benden Christus.
»Kurz und gut: ist nicht die Komposition ur-
sprünglich darauf angelegt gewesen, dass ein
Kruzifix zwischen den Heiligen stehen sollte, ein
wenig ferner als sie, bei weitem aber nicht so
fern als der schwebende Christus? Dieser Christus
macht mir immer den Eindruck des schlecht
angebrachten, des kindischen und armseligen, im
Gegensatz zu dem geistvollen, feurigen, von dem
tiefsten Lionardoschen Bewusstsein erfüllten We-
sen der Heiligen des Vordergrundes.
»Mag immerhin diese Konjektur ein wenig ge-
wagt sein; jedenfalls glaube ich, dass ein Bruch
in der Entwickelung der Komposition vorliege«.
W. v. S.
5