Erster Jahrgang.
Berlin den 15. November 1885.
No. 22.
DER KUNSTFREUND
Herausgegeben von Henry Thode
Erscheint am i. und 15. jeden Monats. Preis des Jahrgangs mit allen Beilagen 20 Mark.
Die Abonnenten des »Jahrbuchs der Königlich Preussischen Kunstsammlungen« erhalten den »Kunstfreund« gratis,
die Beilagen zu ermäfsigten Preisen.
MINIATURMALEREIEN DES PIETRO
LORENZETTI
Giulio Mancini, dessen Kunsttraktate kürzlich
der Gegenstand einer von Th. Schreiber in der
Festschrift für A. Springer veröffentlichten Studie
geworden sind, ist der Erste gewesen, der von
jenem, später von Baldinucci bekannt gemachten
Schriftstück spricht, in dem Giotto’s Auftrag für
die berühmte »Navicella«, sowie für das Altarbild in
S. Pietro zu Rom erwähnt wird. Der Besteller:
Jacopo Gaetani Stefaneschi, der 1295 von Boni-
faz VIII zum Kardinal von S. Giorgio in Velabro
gemacht worden war, hat nach Mancini aber des
Ferneren der Sakristei von S. Pietro ein »libro
miniato, — una opera di questo grand’ artefice«
(Giotto) geschenkt. Es kann kaum ein Zweifel
sein, dass dieses Buch das noch jetzt in der
Sakristei befindliche Missale (129 c) ist, das einer
durch verschiedene Guiden des XVIII und XIX
Jahrhunderts vermittelten Tradition zu Folge noch
immer als Werk des Giotto den Besuchern der
Sakristei - Bibliothek gezeigt wird. Es kann des-
wegen kein Zweifel daran sein, weil dasselbe das
bedeutenste der dort erhaltenen miniierten Bücher
ist und der h. Georg darin besonders gefeiert wird,
welcher ja der Patron des Kardinals war und den
letzteren auch auf dem Altarwerke Giotto’s dem
Heiland empfiehlt. Eine alte Angabe vom Jahre
1601, die sich in dem Missale selbst befindet,
bestätigt diese Ansicht, an der wir ohne jeden
Zweifel festhalten müssen, wenn auch das auf
dem Einbanddeckel befindliche Wappen (geteiltes
Schild: links sechs brennende viereckige Gefäfse
auf Silbergrund, rechts goldener schräger Quer-
balken und zwei springende Löwen, oben drei
Lilien auf blau) nicht mit dem bei Ciacconius
(vitae et resgestae Pontificum II, S. 324) gegebenen,
welches das des Bonifaz VIII ist, übereinstimmt.
Vielleicht war das Missale für den Gebrauch in
der vom Kardinal in S. Peter gestifteten Kapelle
S. Giorgio e Lorenzo bestimmt.
So positiv nun aber Mancini’s Angabe, dass
Giotto die überaus schönen Miniaturen des Buches
gefertigt habe, klingt, so unmöglich ist es doch
für Jeden, der des Florentiner Altmeisters Werke
auch nur einmal gründlich betrachtet hat, daran
zu glauben. Die hervorragenden Geschichts-
schreiber der italienischen Malerei, Crowe und
Cavalcaselle, die den Kodex kurz erwähnen (II,
S. 351), brachten daher einen anderen Künstler in
Vorschlag und zwar in ziemlich unbegründeter
Weise den von Dante gerühmten Miniator Oderisio
da Gubbio. Mir dagegen scheint, dass an Stelle
dieser ganz unbekannten Grösse, vielmehr ein ’aus
zahlreichen, sehr charakteristischen Werken be-
kannter grosser Meister, der Sienese Pietro Loren-
zetti zu setzen ist. Es sind die ihm eigentüm-
lichen Typen, die wir von den Bildern in
S. Ansano bei Siena, in den Uffizien, in Cortona,
in Arezzo her so gut kennen. Jene Köpfe, deren
besonderes Kennzeichen der gedankenvolle, ener-
gische Blick der dunklen Augen ist, an welchem
sich Pietro’s Werke von denen seiner Zeitgenossen
Simone Martini, Ambrogio Lorenzetti und Lippo
Memmi, der durch Chorbücher des Domes von
San Gimignano ja auch als Miniator bekannt ist, am
deutlichsten unterscheiden lassen. Auch das Kolorit
weist ganz bestimmt auf die Sienesische Schule hin.
Im Folgenden mögen kurz die Illustrationen
des Missale erwähnt werden. Auf den ersten
Blättern befinden sich: Maria betend stehend, die
von knieenden Leuten angebetet wird, die Ver-
kündigung (Maria sitzt im gotischen Stuhl, links
kniet der Engel mit Scepter), eine zweite Ver-
kündigung (hier stehen Beide), ein sitzender
schreibender Hieronymus und das Brustbild des
h. Georg. Es folgt:
18 verso. Der h. Georg auf einem Schimmel
nach links sprengend durchbohrt den Drachen;
links kniet die Königin.
22
Berlin den 15. November 1885.
No. 22.
DER KUNSTFREUND
Herausgegeben von Henry Thode
Erscheint am i. und 15. jeden Monats. Preis des Jahrgangs mit allen Beilagen 20 Mark.
Die Abonnenten des »Jahrbuchs der Königlich Preussischen Kunstsammlungen« erhalten den »Kunstfreund« gratis,
die Beilagen zu ermäfsigten Preisen.
MINIATURMALEREIEN DES PIETRO
LORENZETTI
Giulio Mancini, dessen Kunsttraktate kürzlich
der Gegenstand einer von Th. Schreiber in der
Festschrift für A. Springer veröffentlichten Studie
geworden sind, ist der Erste gewesen, der von
jenem, später von Baldinucci bekannt gemachten
Schriftstück spricht, in dem Giotto’s Auftrag für
die berühmte »Navicella«, sowie für das Altarbild in
S. Pietro zu Rom erwähnt wird. Der Besteller:
Jacopo Gaetani Stefaneschi, der 1295 von Boni-
faz VIII zum Kardinal von S. Giorgio in Velabro
gemacht worden war, hat nach Mancini aber des
Ferneren der Sakristei von S. Pietro ein »libro
miniato, — una opera di questo grand’ artefice«
(Giotto) geschenkt. Es kann kaum ein Zweifel
sein, dass dieses Buch das noch jetzt in der
Sakristei befindliche Missale (129 c) ist, das einer
durch verschiedene Guiden des XVIII und XIX
Jahrhunderts vermittelten Tradition zu Folge noch
immer als Werk des Giotto den Besuchern der
Sakristei - Bibliothek gezeigt wird. Es kann des-
wegen kein Zweifel daran sein, weil dasselbe das
bedeutenste der dort erhaltenen miniierten Bücher
ist und der h. Georg darin besonders gefeiert wird,
welcher ja der Patron des Kardinals war und den
letzteren auch auf dem Altarwerke Giotto’s dem
Heiland empfiehlt. Eine alte Angabe vom Jahre
1601, die sich in dem Missale selbst befindet,
bestätigt diese Ansicht, an der wir ohne jeden
Zweifel festhalten müssen, wenn auch das auf
dem Einbanddeckel befindliche Wappen (geteiltes
Schild: links sechs brennende viereckige Gefäfse
auf Silbergrund, rechts goldener schräger Quer-
balken und zwei springende Löwen, oben drei
Lilien auf blau) nicht mit dem bei Ciacconius
(vitae et resgestae Pontificum II, S. 324) gegebenen,
welches das des Bonifaz VIII ist, übereinstimmt.
Vielleicht war das Missale für den Gebrauch in
der vom Kardinal in S. Peter gestifteten Kapelle
S. Giorgio e Lorenzo bestimmt.
So positiv nun aber Mancini’s Angabe, dass
Giotto die überaus schönen Miniaturen des Buches
gefertigt habe, klingt, so unmöglich ist es doch
für Jeden, der des Florentiner Altmeisters Werke
auch nur einmal gründlich betrachtet hat, daran
zu glauben. Die hervorragenden Geschichts-
schreiber der italienischen Malerei, Crowe und
Cavalcaselle, die den Kodex kurz erwähnen (II,
S. 351), brachten daher einen anderen Künstler in
Vorschlag und zwar in ziemlich unbegründeter
Weise den von Dante gerühmten Miniator Oderisio
da Gubbio. Mir dagegen scheint, dass an Stelle
dieser ganz unbekannten Grösse, vielmehr ein ’aus
zahlreichen, sehr charakteristischen Werken be-
kannter grosser Meister, der Sienese Pietro Loren-
zetti zu setzen ist. Es sind die ihm eigentüm-
lichen Typen, die wir von den Bildern in
S. Ansano bei Siena, in den Uffizien, in Cortona,
in Arezzo her so gut kennen. Jene Köpfe, deren
besonderes Kennzeichen der gedankenvolle, ener-
gische Blick der dunklen Augen ist, an welchem
sich Pietro’s Werke von denen seiner Zeitgenossen
Simone Martini, Ambrogio Lorenzetti und Lippo
Memmi, der durch Chorbücher des Domes von
San Gimignano ja auch als Miniator bekannt ist, am
deutlichsten unterscheiden lassen. Auch das Kolorit
weist ganz bestimmt auf die Sienesische Schule hin.
Im Folgenden mögen kurz die Illustrationen
des Missale erwähnt werden. Auf den ersten
Blättern befinden sich: Maria betend stehend, die
von knieenden Leuten angebetet wird, die Ver-
kündigung (Maria sitzt im gotischen Stuhl, links
kniet der Engel mit Scepter), eine zweite Ver-
kündigung (hier stehen Beide), ein sitzender
schreibender Hieronymus und das Brustbild des
h. Georg. Es folgt:
18 verso. Der h. Georg auf einem Schimmel
nach links sprengend durchbohrt den Drachen;
links kniet die Königin.
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