Erster Jahrgang.
Berlin den 15. April 1885.
No. 8.
DER KUNSTFREUND
Herausgegeben von Henry Thode
Erscheint am i. und 15. jeden Monats. Preis des Jahrgangs mit allen Beilagen 20 Mark.
Die Abonnenten des »Jahrbuchs der Königlich Preussischen Kunstsammlungen« erhalten den »Kunstfreund« gratis,
die Beilagen zu ermäfsigten Preisen.
EIN BRIEF DES
VITTORE CARPACCIO
Mit immer grösser werdender Verwunderung
begrüsst man jedes neue Buch des Cavaliere Ber-
tolotti. Für den rastlosen Durchforscher der rö-
mischen Archive, der seit Kurzem eine neue
Heimat in Mantua gefunden hat, scheint der Tag
mehr Stunden zu haben, als für die übrigen
Menschen. Kaum sind die »Artisti Veneti in
Roma«, die.»Artisti subalpini in Roma« erschienen,
so wird uns bereits eine neue Auslese archivali-
scher Forschungen in den »Artisti in relazione coi
Gonzaga Signori di Mantova« (Modena 1885) ge-
boten, die ein ganz besonderes Interesse für den
Kunsthistoriker hat. Aus den zahlreichen inter-
essanten Notizen sei eine hier hervorgehoben, die
zu einigen Erörterungen Anlass giebt. Es ist ein
Brief, den »Victor Carpatio pictor« am 15. August
1511 von Venedig aus an Francesco Gonzaga in
Mantua richtet. In aller Einfachheit und Natür-
lichkeit geschrieben, versetzen uns die wenigen
Zeilen mit einem Schlage in das künstlerische
Treiben der Lagunenstadt und lehren uns das
Erzählertalent des Carpaccio, dieses Schülers und
Zeitgenossen des Bellini, das uns so wohl be-
kannt aus seinen Bildern ist, auch von einer an-
deren Seite kennen.
»Mein erlauchter Herr«, so beginnt das Schrei-
ben, »in den vergangenen Tagen wurde ein mir
Unbekannter von einigen Leuten zu mir gebracht,
eine Darstellung von Jerusalem, die ich gemacht,
zu sehen, und kaum hatte er sie gesehen, so drang
er eifrigst in mich, dass ich sie ihm verkaufen
möchte, da er sie als. ein Ding erkannte, das
sehr zu seiner Zufriedenheit und nach seinem
Herzen sei. Endlich wurde der Handel unter
gegenseitiger Verpflichtung abgeschlossen — aber
er ist nie wieder erschienen. Um mich darüber
aufzuklären, frug ich die, welche ihn zu mir ge-
bracht, unter denen ein bärtiger Priester mit einer
grauen Kappe war, den ich öfters mit Eurer Herr-
lichkeit im grossen Ratssaale gesehen. Auf meine
Frage nach dem Namen und Stande jenes Unbe-
kannten, sagten sie mir, es sei der Meister Lau-
rentius, der Maler Eurer Herrlichkeit. Woraus
ich dann leicht ersah, wo jener hinaus wollte.
Und so erschien es mir gut, dieses Schreiben an
Eure Herrlichkeit zu richten, Euch Nachricht von
meinem Namen und meinem Werke zu geben.
Was den ersteren anbetrifft, mein erlauchter Herr,
so bin ich jener Maler, der von unserer Erlauch-
testen Signoria den Auftrag in dem grossen Saale
zu malen erhielt, in dem Eure Herrlichkeit sich
herabliess, auf die Galerie zu steigen, um mein
Werk, nämlich die »Geschichte von Ancona« zu
sehen, und mein Name ist Victor Carpathio.
Was das »Jerusalem« aber betrifft, so wage ich zu
behaupten, dass es in unseren Zeiten kein anderes
Bild giebt, das an Güte und sorgfältiger Durch-
führung, sowie an Grösse diesem gleich sei. Das
Werk ist 25 Fuss lang und 5I Fuss breit und
hat die Mafsverhältnisse, die man von solchem
Ding verlangt.«
Im Folgenden bietet er es nun dem Mark-
grafen an und stellt diesem anheim, ob er es in
Oelfarben ausgeführt haben wollte oder mit Wasser-
farben auf Leinwand. Uebrigens solle er es
nicht nach einem kleinen Stück beurteilen, das
jener Maler Lorenzo davon mitgenommen habe,
da dies nur der zehnte Teil sei. Den Preis über-
lässt er dem Gutdünken Seiner Herrlichkeit.
Offenbar ist es nur der Karton gewesen, der da-
mals fertig war oder die erste Anlage auf der
Leinwand. Es muss ein Riesenbild gewesen sein,
diese Darstellung von Jerusalem — grösser als alle
die uns bekannten Bilder des Bellini und des Car-
paccio, ein Seitenstück zu jener grossen Leinwand
mit dem Martyrium des Marcus in Alexandrien,
die mit dem Namen des Victor Bellinianus be-
zeichnet in der Akademie zu Wien hängt. Keines
8
Berlin den 15. April 1885.
No. 8.
DER KUNSTFREUND
Herausgegeben von Henry Thode
Erscheint am i. und 15. jeden Monats. Preis des Jahrgangs mit allen Beilagen 20 Mark.
Die Abonnenten des »Jahrbuchs der Königlich Preussischen Kunstsammlungen« erhalten den »Kunstfreund« gratis,
die Beilagen zu ermäfsigten Preisen.
EIN BRIEF DES
VITTORE CARPACCIO
Mit immer grösser werdender Verwunderung
begrüsst man jedes neue Buch des Cavaliere Ber-
tolotti. Für den rastlosen Durchforscher der rö-
mischen Archive, der seit Kurzem eine neue
Heimat in Mantua gefunden hat, scheint der Tag
mehr Stunden zu haben, als für die übrigen
Menschen. Kaum sind die »Artisti Veneti in
Roma«, die.»Artisti subalpini in Roma« erschienen,
so wird uns bereits eine neue Auslese archivali-
scher Forschungen in den »Artisti in relazione coi
Gonzaga Signori di Mantova« (Modena 1885) ge-
boten, die ein ganz besonderes Interesse für den
Kunsthistoriker hat. Aus den zahlreichen inter-
essanten Notizen sei eine hier hervorgehoben, die
zu einigen Erörterungen Anlass giebt. Es ist ein
Brief, den »Victor Carpatio pictor« am 15. August
1511 von Venedig aus an Francesco Gonzaga in
Mantua richtet. In aller Einfachheit und Natür-
lichkeit geschrieben, versetzen uns die wenigen
Zeilen mit einem Schlage in das künstlerische
Treiben der Lagunenstadt und lehren uns das
Erzählertalent des Carpaccio, dieses Schülers und
Zeitgenossen des Bellini, das uns so wohl be-
kannt aus seinen Bildern ist, auch von einer an-
deren Seite kennen.
»Mein erlauchter Herr«, so beginnt das Schrei-
ben, »in den vergangenen Tagen wurde ein mir
Unbekannter von einigen Leuten zu mir gebracht,
eine Darstellung von Jerusalem, die ich gemacht,
zu sehen, und kaum hatte er sie gesehen, so drang
er eifrigst in mich, dass ich sie ihm verkaufen
möchte, da er sie als. ein Ding erkannte, das
sehr zu seiner Zufriedenheit und nach seinem
Herzen sei. Endlich wurde der Handel unter
gegenseitiger Verpflichtung abgeschlossen — aber
er ist nie wieder erschienen. Um mich darüber
aufzuklären, frug ich die, welche ihn zu mir ge-
bracht, unter denen ein bärtiger Priester mit einer
grauen Kappe war, den ich öfters mit Eurer Herr-
lichkeit im grossen Ratssaale gesehen. Auf meine
Frage nach dem Namen und Stande jenes Unbe-
kannten, sagten sie mir, es sei der Meister Lau-
rentius, der Maler Eurer Herrlichkeit. Woraus
ich dann leicht ersah, wo jener hinaus wollte.
Und so erschien es mir gut, dieses Schreiben an
Eure Herrlichkeit zu richten, Euch Nachricht von
meinem Namen und meinem Werke zu geben.
Was den ersteren anbetrifft, mein erlauchter Herr,
so bin ich jener Maler, der von unserer Erlauch-
testen Signoria den Auftrag in dem grossen Saale
zu malen erhielt, in dem Eure Herrlichkeit sich
herabliess, auf die Galerie zu steigen, um mein
Werk, nämlich die »Geschichte von Ancona« zu
sehen, und mein Name ist Victor Carpathio.
Was das »Jerusalem« aber betrifft, so wage ich zu
behaupten, dass es in unseren Zeiten kein anderes
Bild giebt, das an Güte und sorgfältiger Durch-
führung, sowie an Grösse diesem gleich sei. Das
Werk ist 25 Fuss lang und 5I Fuss breit und
hat die Mafsverhältnisse, die man von solchem
Ding verlangt.«
Im Folgenden bietet er es nun dem Mark-
grafen an und stellt diesem anheim, ob er es in
Oelfarben ausgeführt haben wollte oder mit Wasser-
farben auf Leinwand. Uebrigens solle er es
nicht nach einem kleinen Stück beurteilen, das
jener Maler Lorenzo davon mitgenommen habe,
da dies nur der zehnte Teil sei. Den Preis über-
lässt er dem Gutdünken Seiner Herrlichkeit.
Offenbar ist es nur der Karton gewesen, der da-
mals fertig war oder die erste Anlage auf der
Leinwand. Es muss ein Riesenbild gewesen sein,
diese Darstellung von Jerusalem — grösser als alle
die uns bekannten Bilder des Bellini und des Car-
paccio, ein Seitenstück zu jener grossen Leinwand
mit dem Martyrium des Marcus in Alexandrien,
die mit dem Namen des Victor Bellinianus be-
zeichnet in der Akademie zu Wien hängt. Keines
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