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Erster Jahrgang.

Berlin den 15. Dezember 1885.

No. 24.

DER KUNSTFREUND

Herausgegeben von Henry Thode

Erscheint am i. und 15. jeden Monats. Preis des Jahrgangs mit allen Beilagen 20 Mark.
Die Abonnenten des »Jahrbuchs der Königlich Preussischen Kunstsammlungen« erhalten den »Kunstfreund« gratis,
die Beilagen zu ermäfsigten Preisen.

AUSSTELLUNG FARBIGER
UND GETÖNTER BILDWERKE IN DER
NATIONAL-GALERIE
Die Frage der bemalten Plastik, die vor einem
Menschenalter etwa, im Anhang an den Streit um
die polychrome Architektur der Griechen, zum
ersten Mal zur Erörterung kam, wurde neuerdings
in den Vordergrund der ästhetischen Interessen
gerückt. Und diesmal handelt es sich im Wesent-
lichen nicht mehr um den historischen Nachweis,
dass die Alten ihre Statuen färbten, sondern darum,
ob und wie die Modernen diesem Beispiel zu
folgen vermöchten. Die Angelegenheit ist über
das endlose Für und Wider der wissenschaftlichen
Diskussion hinausgewachsen und zu einer Sache
des Geschmackes und des lebendigen künstleri-
schen Empfindens geworden. Um diesem stei-
genden Interesse entgegen zu kommen und ihm
Klarheit über sich selbst zu verschaffen, ver-
anstaltete die Direktion der National - Galerie eine
Ausstellung farbiger Bildwerke. Freilich fühlte
man gleich, dass bei einer Beschränkung auf die
modernen Schöpfungen dieser Art weder den
Künstlern noch dem Publikum besonders gedient
wäre. Den Einen nicht, weil man ihre schwanken-
den und tastenden Versuche, die weder im Prinzip
der Behandlung noch in der technischen Ausfüh-
rung über die ersten Anfänge hinausgekommen, nun
plötzlich als fertige Produkte einer neuen Kunst-
anschauung hinstellte, den Andern nicht, weil eben
jenen, einer noch ungeklärten Bewegung ent-
sprungenen Werken keineswegs diejenige Ueber-
zeugungskraft innewohnte, die man im Interesse
dieses neuesten ästhetischen Glaubensbekenntnisses
verlangte. So suchte man denn nach fragloseren
Autoritäten, um die Ungläubigen zu bekehren und
die Schwankenden zu festigen, und lud auch die

ältere und älteste Kunst zu Gast. Mehr als die
Hälfte der ausgestellten Skulpturen gehört ihr an.
Von den egyptischen Statuen des alten Reiches
angefangen bis zu den zierlichen Porzellanfigür-
chen des Rokoko hat eine lange Reihe der ver-
schiedenartigsten Werke den Beweis zu führen,
dass jede bedeutende Kunstperiode gewohnt war,
farbige Plastik zu schaffen. Nur Schade, dass
gerade der Punkt, um den die zünftigen Ästhetiker
am heissesten kämpfen, dem das Publikum am
ratlosesten gegenübersteht und den die Künstler
am zaghaftesten anfassen, eine augenscheinliche
Erledigung nicht findet. Dieser Punkt betrifft die
Bemalung des Marmors. Von der historischen
Forschung ist die Frage prinzipiell freilich ent-
schieden. Es ist kein Zweifel, dass diejenige Plastik,
die wir die klassische nennen, nicht so aus den
Händen der Bildhauer hervorging, wie sie uns
heute vor Augen steht. Dafür sprechen direkte
wie indirekte Beweise, literarische Ueberlieferung,
ästhetische Notwendigkeit, endlich die sichtbaren
Spuren alter Bemalung. Aber alle diese Zeugnisse
genügen nicht, uns eine sichere und erschöpfende
Vorstellung von der farbigen Erscheinung der
griechischen Bildwerke zu geben. Gerade das
wichtigste Moment, ob die nackten Teile gefärbt
oder nur getönt waren, lassen sie unentschieden.
Sie geben aber auch keinen Aufschluss darüber,
welcher Kreis von Bildwerken der polychromen
Behandlung unterzogen wurde und wie weit
herauf diese Tradition reichte. Schon für die
hellenistische Periode wird der malerische
Schmuck äusserst zweifelhaft, für die römischen
und frühchristlichen Skulpturen ist er völlig un-
verbürgt.
Bündiger lautet die Antwort, wenn wir dieselbe
Frage an die Plastik der späteren christlichen
Jahrhunderte richten. Und hier ist sie im Wesent-
lichen verneinend. Vom Beginn des Mittelalters
an, da man wieder von einer selbständigen italieni-
schen Kunst reden kann, ist die Steinskulptur eine

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