Erster Jahrgang. Berlin den 15. September 1885.
No. 18.
DER KUNSTFREUND
Herausgegeben von Henry Thode
Erscheint am i. und 15. jeden Monats. Preis des Jahrgangs mit allen Beilagen 20 Mark.
Die Abonnenten des »Jahrbuchs der Königlich Preussischen Kunstsammlungen« erhalten den »Kunstfreund« gratis,
die Beilagen zu ermäfsigten Preisen.
ÜBER EINIGE WERKE CLAUDE LORRAINS
Die nachfolgenden Bemerkungen knüpfen er-
klärlicherweise alle an die neueste, ausführlichste
und alles in allem auch beste Monographie an,
welche über Claude Lorrain geschrieben ist, an
Mme Mark Pattisons, der verdienstvollen Englän-
derin, 1884 in französischer Sprache zu Paris er-
schienenes Werk: Claude Lorrain, sa vie et ses
oeuvres. Da ich nun nicht zu den Kritikern ge-
höre, welche ein wissenschaftliches Werk be-
sprochen zu haben meinen, wenn sie eine Reihe
von Zusätzen und Berichtigungen zu demselben
veröffentlichen, so erkläre ich nicht nur ausdrück-
lich, hier keine eigentliche Besprechung dieses
in manchen Beziehungen vorzüglichen Werkes
zu beabsichtigen, sondern verwahre mich auch
von vornherein dagegen, mit meinen Bemer-
kungen, die ich der Claude - Forschung schuldig
zu sein glaube, das neueste Werk der Verfasserin
der »Renaissance en France« als Ganzes herab-
setzen zu wollen.
Frau Pattison hat sich in der That durch ihr
Buch um die Claude-Forschung wohl verdient
gemacht. Sie hat die Entdeckung des Testamentes
Claude’s veranlasst, welches manche Rückschlüsse
auf das Leben des Meisters gestattete. Sie hat
den Franzosen zum ersten Male in ihrer eigenen
Sprache zu Gemüte geführt, dass in Bezug auf die
Jugendgeschichte Claude’s die Aussagen Sandrarts,
der in inniger Freundschaft mit dem Meister ge-
lebt, den Angaben Baldinucci’s, welcher sich auf
Erzählungen des Neffen Claude’s stützte, unbedingt
vorzuziehen sind. Sie hat zum ersten Male die
gewaltige Sammlung der Handzeichnungen des
Meisters im British Museum für seine Biographie
nutzbar gemacht. Sie hat sich erfolgreich bemüht,
Claude’s Werke in Bezug auf die Zeit ihrer Ent-
stehung und die Gönner, für welche sie gemalt
worden, zu ordnen und zu besprechen. Sie hat
vortreffliche, warme Schilderungen einer grossen
Anzahl der besten Gemälde des Meisters gegeben
und auch seinen Radierungen ein fleissiges und
geistvoll eindringendes Kapitel gewidmet.
Schade nur, dass sie es für nothwendig ge-
halten hat, eine Art Catalogue raisonne der Ge-
mälde Claude’s hinzuzufügen (p. 225—246). Dieser
ist in jeder Hinsicht ungenügend. Dass die Be-
zeichnung und Datierung bei einigen Gemälden
angegeben, bei anderen ganz willkürlich weg-
gelassen ist, obgleich sie z. B. in Bezug auf die
Münchener und auf die Petersburger Bilder schon
in den Katalogen der Pinakothek und der Ermi-
tage zu finden gewesen wären, ist noch das
wenigste. Unglücklicher schon ist es, dass sie
Waagens periegetische Schriften auch in Bezug
auf diejenigen englischen Privatgalerien, die ihr
nicht selbst zu sehen vergönnt waren, absichtlich
für ihr Verzeichnis bei Seite geschoben hat, um
nur im Anhang summarisch anzugeben, in welchen
Sammlungen sich auch nach Waagen noch Werke
Claude’s finden sollen. Am unglücklichsten aber
ist es, dass sie, umgekehrt, alle angeblichen Bilder
Claude’s, die Dussieux in seinem Werke »Les
artistes francais ä l’etranger, Paris 1858«, aufzählt,
ihrer Liste unbesehen einverleibt hat. Zugleich
erklärt sie selbst ausdrücklich, nur diejenigen
Bilder in ihr Verzeichnis aufnehmen zu wollen,
welche sie selbst gesehen, oder über welche sie
»des renseignements dus ä des personnes compe-
tentes« besitze. Also Waagen gilt ihr nicht als
personne competente, wohl aber Dussieux. Nun,
Waagen hat sicher nicht beansprucht, unfehlbar
zu sein. Es wäre eine schöne und gerade für die
englische Forschung nahe liegende Aufgabe ge-
wesen, die Angaben Waagens in Bezug auf Claude
Lorrain zu prüfen und, wo es nöthig war, zu
berichtigen. Sicher aber hätte Frau Pattison,
wenn sie Waagens Angaben, statt derjenigen
Dussieux’, mit zu Grunde gelegt hätte, einige
echte Bilder, die ihr nun fehlen, mehr und viele
18
No. 18.
DER KUNSTFREUND
Herausgegeben von Henry Thode
Erscheint am i. und 15. jeden Monats. Preis des Jahrgangs mit allen Beilagen 20 Mark.
Die Abonnenten des »Jahrbuchs der Königlich Preussischen Kunstsammlungen« erhalten den »Kunstfreund« gratis,
die Beilagen zu ermäfsigten Preisen.
ÜBER EINIGE WERKE CLAUDE LORRAINS
Die nachfolgenden Bemerkungen knüpfen er-
klärlicherweise alle an die neueste, ausführlichste
und alles in allem auch beste Monographie an,
welche über Claude Lorrain geschrieben ist, an
Mme Mark Pattisons, der verdienstvollen Englän-
derin, 1884 in französischer Sprache zu Paris er-
schienenes Werk: Claude Lorrain, sa vie et ses
oeuvres. Da ich nun nicht zu den Kritikern ge-
höre, welche ein wissenschaftliches Werk be-
sprochen zu haben meinen, wenn sie eine Reihe
von Zusätzen und Berichtigungen zu demselben
veröffentlichen, so erkläre ich nicht nur ausdrück-
lich, hier keine eigentliche Besprechung dieses
in manchen Beziehungen vorzüglichen Werkes
zu beabsichtigen, sondern verwahre mich auch
von vornherein dagegen, mit meinen Bemer-
kungen, die ich der Claude - Forschung schuldig
zu sein glaube, das neueste Werk der Verfasserin
der »Renaissance en France« als Ganzes herab-
setzen zu wollen.
Frau Pattison hat sich in der That durch ihr
Buch um die Claude-Forschung wohl verdient
gemacht. Sie hat die Entdeckung des Testamentes
Claude’s veranlasst, welches manche Rückschlüsse
auf das Leben des Meisters gestattete. Sie hat
den Franzosen zum ersten Male in ihrer eigenen
Sprache zu Gemüte geführt, dass in Bezug auf die
Jugendgeschichte Claude’s die Aussagen Sandrarts,
der in inniger Freundschaft mit dem Meister ge-
lebt, den Angaben Baldinucci’s, welcher sich auf
Erzählungen des Neffen Claude’s stützte, unbedingt
vorzuziehen sind. Sie hat zum ersten Male die
gewaltige Sammlung der Handzeichnungen des
Meisters im British Museum für seine Biographie
nutzbar gemacht. Sie hat sich erfolgreich bemüht,
Claude’s Werke in Bezug auf die Zeit ihrer Ent-
stehung und die Gönner, für welche sie gemalt
worden, zu ordnen und zu besprechen. Sie hat
vortreffliche, warme Schilderungen einer grossen
Anzahl der besten Gemälde des Meisters gegeben
und auch seinen Radierungen ein fleissiges und
geistvoll eindringendes Kapitel gewidmet.
Schade nur, dass sie es für nothwendig ge-
halten hat, eine Art Catalogue raisonne der Ge-
mälde Claude’s hinzuzufügen (p. 225—246). Dieser
ist in jeder Hinsicht ungenügend. Dass die Be-
zeichnung und Datierung bei einigen Gemälden
angegeben, bei anderen ganz willkürlich weg-
gelassen ist, obgleich sie z. B. in Bezug auf die
Münchener und auf die Petersburger Bilder schon
in den Katalogen der Pinakothek und der Ermi-
tage zu finden gewesen wären, ist noch das
wenigste. Unglücklicher schon ist es, dass sie
Waagens periegetische Schriften auch in Bezug
auf diejenigen englischen Privatgalerien, die ihr
nicht selbst zu sehen vergönnt waren, absichtlich
für ihr Verzeichnis bei Seite geschoben hat, um
nur im Anhang summarisch anzugeben, in welchen
Sammlungen sich auch nach Waagen noch Werke
Claude’s finden sollen. Am unglücklichsten aber
ist es, dass sie, umgekehrt, alle angeblichen Bilder
Claude’s, die Dussieux in seinem Werke »Les
artistes francais ä l’etranger, Paris 1858«, aufzählt,
ihrer Liste unbesehen einverleibt hat. Zugleich
erklärt sie selbst ausdrücklich, nur diejenigen
Bilder in ihr Verzeichnis aufnehmen zu wollen,
welche sie selbst gesehen, oder über welche sie
»des renseignements dus ä des personnes compe-
tentes« besitze. Also Waagen gilt ihr nicht als
personne competente, wohl aber Dussieux. Nun,
Waagen hat sicher nicht beansprucht, unfehlbar
zu sein. Es wäre eine schöne und gerade für die
englische Forschung nahe liegende Aufgabe ge-
wesen, die Angaben Waagens in Bezug auf Claude
Lorrain zu prüfen und, wo es nöthig war, zu
berichtigen. Sicher aber hätte Frau Pattison,
wenn sie Waagens Angaben, statt derjenigen
Dussieux’, mit zu Grunde gelegt hätte, einige
echte Bilder, die ihr nun fehlen, mehr und viele
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