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DIE SAMMLUNG EMILE PEYRE IM MUSEUM FÜR DEKORATIVE KÜNSTE IN PARIS
Besitz unserer Pariser
Museen. Beide sind fast
vollkommen aus alten
Stücken zusammenge-
setzt und haben nur
durch einige leichte und
unvermeidliche Restau-
rierungen gelitten. Sie
gehören noch vollstän-
dig dem gotischen Stil
an, während die Orna-
mente von italienischem
Charakter, die auf den
Betten des Museums von
Nancy sich finden, mit
Leichtigkeit auf eine
schon vorgeschrittenere
Zeit hinweisen.
Die untere Hälfte des-
jenigen, das wir hier ab-
bilden, ist mit diesen Or-
namenten in so charak-
teristischen Reliefs ge-
schmückt, die einem zer-
knitterten und in Falten
gelegten Pergament ähn-
lich sehen, daß man sie
manchmal »Servietten«
nennt, und die man fast
auf allen französischen
Möbeln des 15. Jahr-
hunderts wiederfindet
mit weniger oder mehr
Geschmack und Geschmeidigkeit. Diejenigen des hier
abgebildeten Stuhles sind auf ein Minimum zurück-
geführt, während die des Büfettschrankes im Gegenteil
von einem Stil und von einer Virtuosität in bemerkens-
werter künstlerischer Ausführung sind. Das letzte
Möbel übrigens, das wir unter vielen anderen gewählt
haben, ist von einer ganz besonderen Eleganz und
vermag eine sehr richtige Idee von dem zu geben,
was auf diesem Gebiet die außerordentliche Eigen-
schaft der französischen Kunst des 15. Jahrhunderts
bedeutete. Die leidenschaftlichen Bewunderer der
großen gotischen Epoche des 13. Jahrhunderts wie
die systematischen Verkleinerer alles dessen, was nicht
die ihnen heilige italienisch - antike Renaissance ist,
machen dieser Kunst gern, mag es sich um Archi-
tektur oder Dekoration handeln, ihre Komplikationen
und Verschnörkelungen zum Vorwurf. Gewiß gibt
das glänzende Übermaß an Ornament in gewissen
Gebäuden wie in bestimmten Möbeln der Epoche
genug Grund zu dieser Kritik, aber wenn es sich
um einen architektonischen Vorwurf handelt, so kann
man sehr leicht bemerken, daß die Überhäufung und
Überladung, worüber man sich beklagt, hauptsächlich
in Flandern vorkommt und in den Gegenden, wo
der flandrische Einfluß herrscht. Dort, wo der fran-
zösische Geist, seinen eigenen Traditionen getreu,
mehr er selbst ist, bewahrt die Kunst dieser Zeit mit
ihrem neuen Streben nach Reichtum, Eleganz und
BUFETTSCHRANK, FRANZOSISCH (2. HÄLFTE DES 15. JAHRH.)
Bequemlichkeit eine fast
nervöse Genauigkeit, die
überall tatsächlich das
Gegenteil von den Feh-
lern ist, über die man
sich beklagt. Dies ist
bekanntlich im Zentrum
von Frankreich der Fall,
und besonders an den
Ufern derXoire.^Die Be-
obachtung ist seh wieriger
zu machen, wenn man
die Kunst der Möbel
betrachtet, denn die Pro-
dukte dieser Kunst sind
fast unfehlbar von Land
zu Land gereist, haben
die verschiedensten Be-
sitzer gehabt und er-
reichen uns meistens,
ohne ihren ursprüng-
lichen Charakter gewahrt
zu haben. Nichtsdesto-
wenigerglauben wir, daß
die Beobachtung sich
verallgemeinern läßt und
das Beispiel, das wir vor
Augen haben, ist ganz
dazu gemacht, uns recht
zu geben. Abgesehen
von mancher Truhe, die
mit Flamboyantbeschlä-
gen geschmückt ist, und
den Stühlen mit den verzierten und wie mit Spitzen
durchbrochenen Rücklehnen (der eine von ihnen ist
übrigens ein frappantes Beispiel für die Unsicherheit
seiner Herkunft, denn die einen weisen ihn dem Nor-
den von Frankreich, die anderen dagegen der Gegend
von Piemont zu), ist dieses Büfett mit seiner so sau-
beren Architektur, seiner so bescheidenen Dekoration,
den feingeschnittenen Beschlägen und den in flachem
Relief geschnitzten Lilien, ein vollkommenes Bei-
spiel für die Qualitäten, die gleichzeitig sowohl auf
gewissen Miniaturen wie an bestimmten Skulpturen
der Zeit zutage treten, Qualitäten von außergewöhn-
licher Feinheit und einer eleganten Diskretion.
Der flandrische Einfluß, von dem wir soeben
gesprochen haben, ist an manchem französischen
Produkt dieser Zeit bemerkbar. Die brabantischen
oder Antwerpener Holzarbeiterateliers schicken uns oft
während der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunders nicht
nur zahllose künstlerische Produkte, Möbel, Statuen,
oder vollkommene Einrichtungen, sondern zahlreiche
ihrer Arbeiter, die im besonderen an der Herstellung
dieser Chorstühle arbeiteten, von denen noch eine
Menge in Rouen, Amiens, Albi, Vendöme usw. exi-
stieren, kamen nach Frankreich, wie es heute noch
einige Fragmente im Museum für dekorative Künste,
die Emile Peyre gestiftet hat, beweisen. Es sind nicht
sehr charakteristische Überreste.
Dagegen gibt es ein äußerst seltenes Stück, näm-
DIE SAMMLUNG EMILE PEYRE IM MUSEUM FÜR DEKORATIVE KÜNSTE IN PARIS
Besitz unserer Pariser
Museen. Beide sind fast
vollkommen aus alten
Stücken zusammenge-
setzt und haben nur
durch einige leichte und
unvermeidliche Restau-
rierungen gelitten. Sie
gehören noch vollstän-
dig dem gotischen Stil
an, während die Orna-
mente von italienischem
Charakter, die auf den
Betten des Museums von
Nancy sich finden, mit
Leichtigkeit auf eine
schon vorgeschrittenere
Zeit hinweisen.
Die untere Hälfte des-
jenigen, das wir hier ab-
bilden, ist mit diesen Or-
namenten in so charak-
teristischen Reliefs ge-
schmückt, die einem zer-
knitterten und in Falten
gelegten Pergament ähn-
lich sehen, daß man sie
manchmal »Servietten«
nennt, und die man fast
auf allen französischen
Möbeln des 15. Jahr-
hunderts wiederfindet
mit weniger oder mehr
Geschmack und Geschmeidigkeit. Diejenigen des hier
abgebildeten Stuhles sind auf ein Minimum zurück-
geführt, während die des Büfettschrankes im Gegenteil
von einem Stil und von einer Virtuosität in bemerkens-
werter künstlerischer Ausführung sind. Das letzte
Möbel übrigens, das wir unter vielen anderen gewählt
haben, ist von einer ganz besonderen Eleganz und
vermag eine sehr richtige Idee von dem zu geben,
was auf diesem Gebiet die außerordentliche Eigen-
schaft der französischen Kunst des 15. Jahrhunderts
bedeutete. Die leidenschaftlichen Bewunderer der
großen gotischen Epoche des 13. Jahrhunderts wie
die systematischen Verkleinerer alles dessen, was nicht
die ihnen heilige italienisch - antike Renaissance ist,
machen dieser Kunst gern, mag es sich um Archi-
tektur oder Dekoration handeln, ihre Komplikationen
und Verschnörkelungen zum Vorwurf. Gewiß gibt
das glänzende Übermaß an Ornament in gewissen
Gebäuden wie in bestimmten Möbeln der Epoche
genug Grund zu dieser Kritik, aber wenn es sich
um einen architektonischen Vorwurf handelt, so kann
man sehr leicht bemerken, daß die Überhäufung und
Überladung, worüber man sich beklagt, hauptsächlich
in Flandern vorkommt und in den Gegenden, wo
der flandrische Einfluß herrscht. Dort, wo der fran-
zösische Geist, seinen eigenen Traditionen getreu,
mehr er selbst ist, bewahrt die Kunst dieser Zeit mit
ihrem neuen Streben nach Reichtum, Eleganz und
BUFETTSCHRANK, FRANZOSISCH (2. HÄLFTE DES 15. JAHRH.)
Bequemlichkeit eine fast
nervöse Genauigkeit, die
überall tatsächlich das
Gegenteil von den Feh-
lern ist, über die man
sich beklagt. Dies ist
bekanntlich im Zentrum
von Frankreich der Fall,
und besonders an den
Ufern derXoire.^Die Be-
obachtung ist seh wieriger
zu machen, wenn man
die Kunst der Möbel
betrachtet, denn die Pro-
dukte dieser Kunst sind
fast unfehlbar von Land
zu Land gereist, haben
die verschiedensten Be-
sitzer gehabt und er-
reichen uns meistens,
ohne ihren ursprüng-
lichen Charakter gewahrt
zu haben. Nichtsdesto-
wenigerglauben wir, daß
die Beobachtung sich
verallgemeinern läßt und
das Beispiel, das wir vor
Augen haben, ist ganz
dazu gemacht, uns recht
zu geben. Abgesehen
von mancher Truhe, die
mit Flamboyantbeschlä-
gen geschmückt ist, und
den Stühlen mit den verzierten und wie mit Spitzen
durchbrochenen Rücklehnen (der eine von ihnen ist
übrigens ein frappantes Beispiel für die Unsicherheit
seiner Herkunft, denn die einen weisen ihn dem Nor-
den von Frankreich, die anderen dagegen der Gegend
von Piemont zu), ist dieses Büfett mit seiner so sau-
beren Architektur, seiner so bescheidenen Dekoration,
den feingeschnittenen Beschlägen und den in flachem
Relief geschnitzten Lilien, ein vollkommenes Bei-
spiel für die Qualitäten, die gleichzeitig sowohl auf
gewissen Miniaturen wie an bestimmten Skulpturen
der Zeit zutage treten, Qualitäten von außergewöhn-
licher Feinheit und einer eleganten Diskretion.
Der flandrische Einfluß, von dem wir soeben
gesprochen haben, ist an manchem französischen
Produkt dieser Zeit bemerkbar. Die brabantischen
oder Antwerpener Holzarbeiterateliers schicken uns oft
während der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunders nicht
nur zahllose künstlerische Produkte, Möbel, Statuen,
oder vollkommene Einrichtungen, sondern zahlreiche
ihrer Arbeiter, die im besonderen an der Herstellung
dieser Chorstühle arbeiteten, von denen noch eine
Menge in Rouen, Amiens, Albi, Vendöme usw. exi-
stieren, kamen nach Frankreich, wie es heute noch
einige Fragmente im Museum für dekorative Künste,
die Emile Peyre gestiftet hat, beweisen. Es sind nicht
sehr charakteristische Überreste.
Dagegen gibt es ein äußerst seltenes Stück, näm-