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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 6./​7.1924/​25

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1./2. Januarheft
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1./2. Märzheft
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Junius, Wilhelm: Sachsens letzter Gotiker
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https://doi.org/10.11588/diglit.25879#0253

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kanzel, dem leicht zu bearbeitenden Material der Anna-
berger „Schönen Tür“ stand hier ein spröderer und
wesentlich härterer Werkstein des Chemnitzer Portals
hemmend und den allzu ausschweifenden Schwung
artistischer Virtuosität dämpfend gegenüber.
Ein Kinderfreund scheint unser Meister gewesen zu
sein, denn abgesehen von Peter Vischers köstlichen
possentreibenden Amoretten am Sebaldusgrabe wüßte
ich keinen deutschen Meister zu nennen, der um 1510
so häufig auf seinen Werken dem deutschen Putto Ge-
legenheit bietet, sich dort zu tummeln. Fröhlich turnen
drei bübchen an der Freiberger Tulpenkanzel herum,
in rührender Kinderunschuld harren sie der hl. Taute
am Taufaltar der A n n a b e r g e r Annenkirche,
die unzweifelhaft dem Monogrammisten FI. W. der
„Schönen Ttir“ zuzuschreiben ist, und auch an dieser
fehlen die Engelchen unterhalb des Gebälkes nicht. Die
einprägsame höchst charakteristische Schnittformel des
Meisters H. W. finden wir bei zwei weiteren in Chem-
nitz erhaltenen Werken: der Madonna vom ehemaligen
Hochaltar der Chemnitzer Jakobikirche (Museum
Chemnitz) und der signifikanten Geißelungs-
g r u p p e der Schloßkirche, ebenfahs einer Stif-
tung des kunstsinnigen Wettiners. Im Aufbau und
der Durchführung gehört die Chemnitzer Stäupung zu
dem Erstaunlichsten, was der spätgotische Verismus
in solcher Konsequenz und erschütternder Steigerung
des Passionserlebens hervorgebracht hat. Vesperbildern
und abstrusen Schmerzensmännern, wie sie zu hunder-
ten noch erhalten sind, fehlt oft jene seelische Tiefe und
entwirklichende Monumentalität, die das Schnitzmesser
dem ungefügen Baumstamm hier abgerungen hat.
Eine Madonna von 1505, durch ihre stark betonte
S-Kurvigkeit noch ganz das gotische lianenhaft-ran-
kende Sentimento expressiv gestaltend, und also der
früheren Entwicklungslinie des Meisters H. W. einzu-
fügen, ferner eine etwa 15 Jahre später entstandene
Madonna aus Waldkirchen (Zschopau), die stilkritisch
unbedenklich ihm gegeben werden kann 3), und endlich
eine dritte Marienfigur von nicht so ausgeprägtem Duk-
tus bewahrt das Dresdner Altertums-Museum.
Dürerisch herbe Gestalten von innerer Großheit
sind sodann die Ebersdorfer P u 11 h a 11 e r , ein
Engel und ein Diakon, die auf das Naumburger bezw.
das jüngere Würzburger Vorbild der Riemenschneider-
Schule 4) hinweisen, aber in der Dur-Melodik, der as-
ketisch-gedämpften Instrumentierung der Linienführung
und des seelischen Ausdrucks jenen in Vielem überlegen
sind. Aucli dem ungeübten Auge dessen, der nicht die
mikroskopierende Technik und philologische Akribie
der Stilkritiker belierrscht, wird die Identität der Anna-
berger Engel, des Chemnitzer die Dornenkrone am
Fuße der Geißelungsgruppe flechtenden Schergen und
der Engel des B o r n a e r A 1 t a r e s mit den Ebers-
3) Dem mit histologisch-mikroskcpierender Technik analy-
sierenden Stilkritiker bedcuten da u. a. die Behandlung des Haa-
res in spitz zulaufenden einzeinen Biischelchen, sodann cinige
typische Qewandfalten und Ueberschläge Charakteristika des
Meisters H. W.
") Phot. Dr. Franz Stocdtner, Berlin, Nr. 31713.

dorfer Pulthaltern auffallen, und unsere Einordnung
dieser Schöpfungen in das Gesamtwerk des Meisters
H. W. annehmen, obwohl nur der Bornaer Altar H. W.
1511, die Annaberger „Schöne Tür“ H. W. 1512 signiert
sind. Die Darstellung der Begegnung der Maria und
Elisabeth im Mittelschrein des Bornaer A 11 a r e s
ist m. E. in der deutschen Plastik des Mittelalters einzig-
artig. Hinsichtlich des Formalschönen gewiß oft über-
troffen, ist ihr docli keine gleichzeitige Behandlng des


Der Aufgang gegeniiber der Kanzel

gleichen Themas als ebenbürtig an die Seite zu stellen
— jenen fehlt oft dieses Ausmaß an leiderfüllter Seelen-
größe, geheiligtem Muttersclnnerz und ergreifender
Ausdrucksbewegung.
Ein im Gesamtaufbau dekorativ sehr wirksames,
in den plastischen Teilen vorzüglich gearbeitetes Werk
und nicht minder durch seine Flügelgemälde bedeut-
samer Altar aus der Werkstatt des Meisters H. W. und
seines in Chemnitz und Annaberg tätigen Mitarbeiters,
des Malers Hans von Köln (oder Kolin in Böhmen?) ist
der E h r e n f r i e d e r s d o r f e r A 11 a r — neben
dem Glösaer (Museum-Chemnitz) und dem unbedeu-
tenderen Mittelbacher Altar der besten Werke des

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