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Rahn, Johann Rudolf
Geschichte der bildenden Künste in der Schweiz: von den ältesten Zeiten bis zum Schlusse des Mittelalters ; mit 2 Tafeln und 167 in den Text gedruckten Holzschnitten — Zürich, 1876

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https://doi.org/10.11588/diglit.29817#0186

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Die romanische Kunst.

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welche die mittelalterliche Kunst in den ersten Jahrhunderten ihres Auf-
tretens zeigt. Zunächst ist es einleuchtend, dass bei einer so umfassenden
Thätigkeit, wie sie den damaligen Geistlichen zukam, ein tieferes Eingehen
in das Einzelne unmöglich wurde, und dass sich mithin das Gefühl für die
zartere Schönheit nothwendig abstumpfen musste, oder wenigstens nicht
Aveiter entwickeln konnte. Es ist daher eine bemerkenswerthe Erscheinung,
dass, während die romanische Architektur z. B. geistreiche Baugedanken und
neue originelle Formen in grosser Zahl aufzuAveisen hat, gerade dasjenige,
Avas die hierauf folgende Gothik charakterisirt, die kleinbürgerliche Liebe
und Sorgfalt, mit welcher der Handwerker das Einzelne behandelt, ihr
vollständig abgeht. Es erklären sich daraus die ausserordentlichen Unregel-
mässigkeiten der Ausführung und der Maassverhältnisse, welche man bei
näherer Aufmerksamkeit fast an allen mittelalterlichen Monumenten ent-
deckt. Aehnliches zeigt sich im Detail dieser Bauten. Der römische Stil
verlangte, dass auch die reichste Verzierung an dem ganzen Gebäude an
derselben Stelle Aviederkehren sollte. Ein Tempel z. B. oder eine Colonnade
konnte nur in einheitlicher Weise nach dem Stile einer bestimmten Säulen-
ordnung componirt Averden. Wo aber mehrere dieser Säulenordnungen
Vorkommen, da behauptete dennoch das Gesetz der Einheit insofern seine
Geltung, als ein Wechsel der verschiedenen Ordnungen nur von Stockwerk
zu Stockwerk zugelassen Avurde. Dem mittelalterlichen Gefühle war diess
unerträglich. Man konnte sich die Verzierungen nur als den Ausdruck
der eigenen Phantasie, von persönlicher Empfindung eingegeben denken.
Daher denn die ausserordentliche Mannigfaltigkeit von immer neuen Formen
und Compositionen, die mit jedem einzelnen Gliede Avechseln, so dass oft-
mals kaum zwei Stützen derselben Reihenfolge den gleichen Schmuck an
Kapitälen und Gesimsen zeigen.

Und doch lag in dieser scheinbaren Willkür gerade der Antrieb zu
einer höheren Consequenz verborgen. Sobald nämlich bei aller Mannig-
faltigkeit der Einzelnheiten die grossen Züge nur einer einheitlichen Gliede-
rung sich unterordnen, so entsteht ein neues Gesetz, dasjenige des rhyth-
mischen Wechsels, der Gruppe, und damit hat bekanntlich die Architektur
des Mittelalters eine neue und gleichzeitig eine ihrer fruchtbarsten Aufgaben
gelöst.

Anders verhält es sich mit den Schwesterkünsten, der Plastik und der
Malerei, die Avährend des ganzen Mittelalters der grossartigen Entwickelung
der Architektur gegenüber in weitem Rückstände verblieben. Schon der
Mangel einer festen Sitte und eines ausgeprägten Charakters, der sich in
jener Zeit so Avechselvoller Erregtheit und innerer Widersprüche schAver zu
entAvickeln hatte, Avar einer höheren Ausbildung dieser Künste hinderlich.
Die Empfindungen ferner, Avelche ihre Werke beseelen, sind überaus feiner
 
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