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Rahn, Johann Rudolf
Geschichte der bildenden Künste in der Schweiz: von den ältesten Zeiten bis zum Schlusse des Mittelalters ; mit 2 Tafeln und 167 in den Text gedruckten Holzschnitten — Zürich, 1876

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https://doi.org/10.11588/diglit.29817#0187

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Drittes Buch.

Natur, jede Einzelnheit verlangt eine zarte und eingehende Behandlung,
denn während ein Bauwerk, selbst bei mangelhafter Detailgliederung, noch
immer durch die Harmonie seiner Verhältnisse imponirt, so kann die mensch-
liche Gestalt durch den geringsten Fehler des Bildners zur Unkenntlichkeit,
ja bis zur Beleidigung entstellt werden. War hier allein schon die Univer-
salität, die man von dem Künstler forderte, einer A7ollendung hinderlich, so
gesellte sich ein anderes Moment nicht weniger ungünstig dazu bei. Die
Griechen, auch die der ältesten Zeit pflegten stets ihre Blicke auf die um-
gebende Natur zu richten. Das Mittelalter dagegen tritt ihr geradezu
feindselig entgegen; es erklärt sie für sündhaft und verpflichtet den Men-
schen zum unablässigen Kampfe mit derselben. Nicht die Natur war es
also, aus welcher die mönchischen Künstler ihre Anregungen schöpften,
sondern die Erzeugnisse der spätrömischen, der altchristlichen und etwa der
byzantinischen Kunst, also lauter abgeleitete, halbverstandene und bereits
veraltete Vorbilder. Es erklärt sich daraus, dass wir insbesondere den
AVerken der romanischen Plastik und Malerei nur eine untergeordnete
Stellung einräumen können, und diese beiden Kunstgattungen vorherrschend
als Dienerinnen der Architektur zu betrachten haben.

Was endlich die äusseren Erscheinungen betrifft, unter denen sich die
Kunst des Mittelalters entwickelt, so sind hier wie im Alterthum verschiedene
Stile zu unterscheiden. Aber während bei den Griechen z. B. der dorische
und der jonische Stil gleichzeitig bestanden, so dass sich in diesen Kunst-
richtungen vielmehr die nationale Verschiedenheit der beiden Hauptstämme
als die Aufeinanderfolge zweier Entwickelungsstufen ausspricht, so ist im
Mittelalter umgekehrt die chronologische Scheidung maassgebend und es
treten die localen und nationalen Verschiedenheiten auffallend zurück.

AAfle die Kirche das ganze mittelalterliche Dasein beherrschte und das
Christenthum allen seinen Bekennern dieselben Ziele stellte, so traten auch
die Nationen in ein Verhältnis gleichartiger Culturthätigkeit. Alle Völker
des christlichen Abendlandes, die Deutschen, Engländer und Franzosen
voraus, in zweiter Linie die Spanier und die A^ölker des skandinavischen
Nordens, endlich die Italiener, sie alle sind gemeinsame Träger eines und
desselben Stiles. Wir unterscheiden sodann in der mittelalterlichen Kunst-
entwickelung zwei grosse Hauptepochen: diejenige des romanischen und
die des gothischen Stiles. Zwischen beide aber fügt sich als eine
dritte, schwer zu begrenzende Epoche die des sog. Uebergangsstiles, der
ein Gemisch der beiden ersteren Kunstweisen darstellt, so nämlich, dass
entweder romanische Grundformen mit gothischen Elementen in einem
bloss decorativen Sinne ausgestattet werden (Münster zu Basel), oder dass
sich die grossen technisch-statischen Neuerungen, welche die Gothik mit
sich brachte, noch im alten romanischen Formgewande darstellen (Dom zu
 
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