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Rahn, Johann Rudolf
Geschichte der bildenden Künste in der Schweiz: von den ältesten Zeiten bis zum Schlusse des Mittelalters ; mit 2 Tafeln und 167 in den Text gedruckten Holzschnitten — Zürich, 1876

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https://doi.org/10.11588/diglit.29817#0762

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Das jüngste Gericht

Gerichtes ein (Fig. 165).x) Unter dem Scheitel des Bogens ist jetzt ein
Rundfenster angebracht, das wahrscheinlich erst bei späterem Anlasse, etwa
zur Zeit des Bildersturmes, an die Stelle des ursprünglich hier thronenden
Heilandes durchgebrochen wurde Darunter erhebt sich das Standbild des
heiligen Michael, die Mitte bezeichnend, in der sich die Züge der Seligen
und der Verdammten sondern. Rechts sieht man die armen Sünder; von
Teufeln zu Paaren getrieben, stehen sie im dichten Knäuel beisammen,
der immerfort noch frische Zuschüsse durch die von oben herunter ge-
schleuderten Gestalten erhält. Dazwischen mengen sich Unholde aller Art
und Grösse, bald einzeln mit ihren Opfern beschäftigt, bald mit Hülfe an-
derer die Gruppen sammelnd. Es ist eine ganze Scala der ausgesuchtesten
Peinigungen, die vom Rabensteine, wo scheussliche Spukgestalten auf dem
reich garnirten Galgen sich wiegen, durch die einzelnen Gruppen bis
zu dem letzten Momente sich steigern, wo die Verdammten unter dem
infernalischen Lärm der Dämonen in die feuerspeienden Schlünde getrieben
werden. Ein hoch in der Mitte stehender Engel trennt mit gezücktem
Schwert diese wilde Scene von dem Bilde des Friedens, das den Einzug der
Seligen in das Paradies schildert. Jene Verdammten sind nackt, nur die
Kopfbedeckungen, die hin und wieder aus dem Getümmel emportauchen,
bezeichnen die verschiedenen Stände, die vom Papst und Kaiser bis hinab
zum Krüppel in reicher Auswahl vertreten sind. Hier dagegen, in der.
Schaar der Seligen, sind es lauter drapirte Gestalten, die sich in zahlreichen
Chören vom Patriarchen und Heiligen bis zu der untersten Folge abstufen,
wo die Vertreter des Volkes: Männer, Frauen und Kinder, verschiedene
Handwerker, Bauern mit Aexten, ein Weltgeistlicher mit dem Kelche und
zuletzt noch zwei Flagellanten erscheinen. Aus der Mitte Aller ragt hoch
und schmal die Pforte des Paradieses empor. Ein Papst will eben hinein;
aber wie er so stolz und siegesgewiss der Schwelle sich naht, WÜ|ritt ihm
ein Engel den Weg und ein anderer hält ihn zurück, indem er von Hinten
den Mantel des Papstes erfasst. Es ist gewiss, dass hier über den Ein-
zug noch unterhandelt wird; denn — auch der Höchste auf Erden kann
nur durch Demuth die himmlischen Freuden erlangen.

Für den letzten Stand der gothischen Plastik liegt hier eines der be-
zeichnendsten Werke vor. Was mit Fleiss und technischer Bravour zu er-
reichen war, das ist in vollstem Maasse geleistet. Selbst an Erscheinungen
von wirklicher Schönheit fehlt es nicht; die Gestalten der Engel, die in
der inneren Kehle die Marterwerkzeuge tragen, sind von grosser Anmuth,

*) Der Genauigkeit wegen ist dieses Relief als unmittelbare Copie des Licht-
bildes auf den Stock gezeichnet worden. Der Abdruck giebt es daher in gegen-
seitiger Anordnung wieder.
 
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