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DIE WELTKUNST

Jahrg. V, Nr. 38 vom 20. September

des 19. Jahrhunderts, die wir schaßen, ist
eine andere. Natürlich gibt es Übergänge,
Bilder, die sowohl in erzählerisch-anekdoti-
scher wie in formaler Hinsicht von Wert sind.
Aber nicht diese Übergänge sind symptoma-
tisch, sondern das er.st jefct möglich gewor-
dene Nebeneinander einer nur am Erzähle-
rischen und einer nur am Formalen, an der
reinen Erscheinung ganz gleich welchen
Gegenstandes interessierten Malerei, wie es
etwa der Impressionismus war. Immer
problematischer, immer bruchhafter wird
gegen das Jahr 1900 zu die Kunst der
wenigen wirklich Großen, die noch Beseeler
von Landschaft, Schöpfer einer mythisch-
heroischen Gestaltenwelt sein wollen, Boecklin,
Thoma, Klinger, während andere sich gleich-
zeitig in neuer Weise auf die streng formalen,
den Künsten spezifischen Aufgaben von
Malerei und Plastik zu besinnen begannen,
Marees und Hildebrand. Verarbeitung der
Gesichtssinneserlebnisse, Neugestaltung der
sichtbaren Welt als sichtbarer, dies war ein
Programm, das notwendig eine Vernachlässi-
gung der Interessen am Gegenstände, auch
am Seelischen mit sich brachte. Die Im-
pressionisten visierten gleichzeitig auf die
eigentümliche Brechung, die alle Erscheinung
in dem eigenen sehenden Auge erfährt.
Weniger die objektive Natur, als das subjek-
tive Bild von ihr, das „Wie ich es sehe“ wird
der Gegenstand ihrer Kunst. Auf dieses
„Wie“ konzentrieren sich auch alle weiteren
künstlerischen Werte, und der Betrachter
wird, will er überhaupt mit dieser Kunst
gehen, gezwungen, gleichsam mit den Augen
des Malers zu sehen.
Auch hier also die Nötigung zu einem
Sichidenlifizieren mit dem fremden Subjekt:
Die Welt wird mit den Augen eines Anderen
betrachtet. Die geistesgeschichtliche Parallele
mit der Nötigung, die in jenen Publikums-
bildern vorlag, ist deutlich. Aber es ist eine
andere Nötigung, weil sie nicht zu bestimm-
ten Stellungnahmen verpflichtet, sondern ein-
fach auf Sehen, und zwar auf das totale
Sehen einer einheitlich, siileinheiilich gestalte-
ten Erscheinungswelt zielt. Ein Bild jener
Publikumskunsi und ein Bild der großen Im-
pressionisten, beides ist von älterer Kunst
völlig verschieden. Die Richtungen sind aber
unter sich nicht minder verschieden. Die
Spaltung, die jeßt eingetreten ist und die es
in älterer Kunst niemals gab, ist evident. Es
ist dieselbe Spaltung, die heute zwischen
Filmbild und Malereibild aufklafft. Das Bild-
interesse der Massen hat sich dem Filmbild
zu-, vom Malereibild abgewendet, kein Wun-
der, da die Nötigung des ersteren die weit-
aus bequemere ist.
Natürlich ist es kindlich und primitiv,
wenn die heutige Krise — und sei es auch
nur die Absaßkrise — der Malerei allein auf
die Krise der Wirtschaft zurückgeführt wird.
Es zeugt aber, wie mir scheint, von nicht ge-
ringerer geistiger Anspruchslosigkeit, wenn
man glaubt, die „neue Malerei“ sei im Gegen-
saße zu älterer im Grunde nur das Experi-
ment eines kunsifremden „Unternehmer-
tums“, seiner Absichten auf Kapital-Investie-
rung, und das Bedenkliche unserer Situation
erkläre sich so. Die „neue Malerei“ wirk'
vielleicht häufig „gemachter“ als ältere, sie ist
darum aber noch nicht und vor allem ganz
gewiß nicht allein in einem ganz anderen
Sinne „gemacht“. Sie und alle „Richtungen“
entspringen einer tiefen geistigen Not, einem
Suchen nach Zielen. Älterer Kunst hat das
Bildbedürfnis geistig einheitlich strukturierter
Schichten einen gewissen Weg von vornherein
vorgeschrieben, indem der Bildgegensland
als solcher kein eigentliches Problem war.
Heute ist das anders, das Bildbedürfnis der
Massen wird jenseits des Künstlerischen —
dessen wenigstens, was wir so nennen — be-
friedigt. Was soll da die Kunst? Ist es ihr
Schicksal, „außerhalb von Heute“ zu stehen?
Der Subjektivismus der Impressionisten
war geistesgeschichtliches Schicksal. Der so-
genannte Expressionismus hat, mochte er
programmatisch auch anderes wollen, nur
eine Steigerung dieses Subjektivismus ge-
bracht. Beide Bewegungen mußten auf die
Massen der bürgerlichen Schichten im Grunde,
wenigstens zunächst, abstoßend wirken. Die
geistige Zumutung, die Zumutung der künst-

Inhalt Nr. 38
Prof. Dr. H. Beenken (Leipzig):
Kunstinteresse und Bildinteresse.1/2
Dr. Ferdinand Eckhardt:
Neues von Gestern (m. 2 Abb.).2/3
Dr. A. v. Schneider (Karlsruhe):
Matisse in der Baseler Kunsthalle (m. 2 Abb.) 3
A u k t i o n s k a 1 e n d e r .3
Auktionsvorberichte.3,5
Ausstellungen der Woche . . . . 4
Literatur — Preisberichte — Kunst im Rundfunk 4
Dr. 0. Bloch (Berlin):
Keramik-Sammlung Schack (m. 3 Abb.) . . 5
Ausstellungen .5
Nachrichten von Überall (m. Abb.) . 6
Unter Kollegen.6

M.& R. STORA

GOTHIQUE
KT
RENAISSANCE

32 BIS BOULEVAHD HAUSSMANN
PABIS

lerischen Bewertungskriterien zumal, war zu
groß, immer wenigere wurden ihr wirklich ge-
recht. Die Kunst isolierte sich selbst zu einer
Zeit, in der die Surrogate, die dem eigent-
lichen Bildbedürfnis der Massen dienenden
neuen Techniken ihren unerhörten Auf-
schwung erlebten.
Diese Isolierung, die vermutlich endgül-
tige Spaltung von Kunstinferesse und Bild-
interesse, das ist die Tatsache, die wir heute
hinnehmen müssen. Sie steht nicht allein.
Die Wissenschaften, vielleicht auch die
Religion, sind vom „Leben der Zeit“, vom
„Heute“ nicht weniger abgefrennt. Diese
Abtrennung ist noch nicht Tod. Auch in der
Isolierung ist fruchtbares Schaffen, unbeirrtes,
unbeirrbares Ringen um die einer geistigen

Tätigkeit besonderen Probleme innerlich
möglich.
Innerlich möglich! Ob auch äußerlich,
das ist eine andere Frage. Vielleicht wird
Malerei und Bildhauerei als wirtschaftlicher,
als mehr oder minder ernährender Beruf mehr
und mehr aufhören müssen. Ich vermag darin
für die Kunst als solche kein so sehr großes
Unglück zu sehen. Und ebenso ist es sicher
kein Unglück, wenn der „Betrieb“, der sich
in den leßten Jahrzehnten um alles, was
„neue Kunst“ hieß, entwickelt hat, wieder
zurückschrumpft, wenn die Kunst die Öffent-
lichkeit weniger behelligt, wenn sie ihrerseits
von der Öffentlichkeit weniger behelligt wird
Vielleicht wird es stiller um die Kunst wer-
den, vielleicht sehr viel stiller; aber welch ein

Irrtum, zu meinen, daß die Kunst selber
sterben müßte, bloß weil der Lärm um s*e
aufhört! . .
Gewiß ist ein Sterben von Künsten an sld1
keine geschichtliche Unmöglichkeit. Aber n”r
scheinen die Kräfte, die heute — und nicht nur
in Architektur und Kunsigewerbe — alTl
Werke sind, noch zu stark, und das Suchen
nach Neuem noch zu lebendig, um Tod-nah®
zu diagnostizieren. Vor einem Jahrzehn
mochten Gegner des damals Neuen vielleich1
mit einem Anschein von Recht von Fieber'
schauern und Krämpfen reden. Heute ist eS
stiller geworden. Wir wollen glauben, da»
diese Stille nicht die des Todes, sondern di®
der Genesung und des langsamen Reifens ist-
Wir wollen glauben, auch wo wir nicht sehen-



Neues von Gestern

in

THE OCTOBER ISSUE OE THE PRINT COLLECTORS

ENGRAVED

DODGSON :

PRICE FIVE SHILLINGS NET POST

CAMPBELL

SHILLINGS AND SIXPENCE PER

FREE OR

SEVENTEEN

ANNUM POST FREE OBTAINABLE FROM ALL BOOKSELLERS

OR FROM TEN BEDFORD STREET LONDON ENGLAND

Direktor Harilaub versucht unter diesem
Titel zum erstenmal, über eine Zeit Rechen-
schaft zu geben, die bisher von der modernen
Kunstforschung nicht nur vollständig vernach-
lässigt, sondern überhaupt negiert worden ist,

Flugmaschine
W anderausstellung
„Neues von
Gestern“
Mannheim
Kunsthalle

QUARTERLY WILL CONTAIN ARTICLES ON EARLY RAIL-
WAY PRINTS BY FATHER R. B. FELLOWS, THE WOODCUTS

in den 50 er Jahren, die
in
bei

AND THE

splittert bis zum äußersten, und doch können
wir neben dem Wertlosen das Wertvolle deut-
lich herauslösen. Neben romantischen und
stilisierenden Phantasien in der Architektur
eine ganz große Linie technischer Bauten,

WORK OF CHARLES SIMS BY

nämlich über die Jahrzehnte von 1830 bis 1914.
Dabei ist es selbstverständlich, daß ein erster
Versuch noch keine endgültige Lösung brin-
gen konnte, in der Hauptsache ist daher die
Ausstellung nur Materialschau, aber in den
Grundlinien läßt sie eine einheitliche Entwick-
lung doch erkennen. Es handelt sich dabei
natürlich nicht in erster Linie um den Im-
pressionismus oder um die paar Dußend be-
kannter französischer, deutscher und eng-
lischer Maler, auch nicht um die wenigen be-
kannten Architektennamen, wie Schinkel und
Semper, sondern die Ausstellung will gerade
zeigen, daß die Entwicklung in einer ganz an-
deren Richtung stattgefunden hat. Das Ma-
terial bilden nicht die Werke selber, sondern
das Bild, das sich ihre Entstehungszeit von
ihnen gemacht hat. Die Ausstellung besteht
also aus zehntausenden von ausgeschnittenen
Bildern aus damaligen Journalen und Zeit-
schriften mit den originalen Beschriftungen,
die aber einheitlich nach gewissen Gesichts-
punkten auf etliche hundert Tafeln aufgeklebt
sind. Es werden immer fünf oder zehn Jahre
zusammengefaßt und unter bestimmten Ge-
sichtspunkten dargestellt. Nicht selten steht
das Politische im Mittelpunkt, der deutsche
Krieg, der russisch-japanische Krieg, der
Dreibund oder eine einzelne politische Per-
sönlichkeit, die großen Kaiser, Kanzler, Elisa-
beth von Österreich, Ludwig von Bayern,
Victoria von England, oder das Gesellschafts-
leben, die Mode, das Theater, die Künstler,
die verherrlichten Persönlichkeiten eines Jahr-
zehnts werden nebeneinander aufgeführt.
Es ist das difuseste Material, das wir uns
vorstellen können, uneinheitlich und zer-

Börsenkatastrophe
Wanderausstellung „Neues von Gestern“
Mannheim, Kunsthalle

OF GWENDOLEN RAVERAT BY JOHN GOULD FLETCHER,
COCK-FIGHTING AND ITS ILLUSTRATIONS BYH.A.BRYDEN

Brücken, Ausstellungshallen, Bahnhöfe, die
verhältnismäßig kurzer Zeit die damals neu
hinzugekommenen Materialien Eisen, Glas und
Beton in einer ihren Voraussetzungen ent-
sprechenden Form verwenden und damit
Ewiggültiges geschaffen haben. Die Lon-
doner Ausstellungshalle, der Kristallpalast in

Sydenham, erbaut
Bahnhofshalle der St. Pankras-Station
London (1868), die Weichselbrücke
Dirschau, erbaut von Lenße 1857, das Waren-
haus Bon-Marchee in Paris, erbaut von
Boileau und Eiffel 1876, die ersten Eisenbahn-
maschinen und unzählige andere Beispiele

LE GOUPY
SELTENE GRAPHIK -
ZEICHNUNGEN * GEMALTE
KUNSTWERKE

PARIS
28, CLamps-Elysees
5, Boulevart de la JMadelei®6

werden in Zukunft die Ausgangspunkte f11'
die Kunstforschung über diese Zeit sein.
Vor allem die ersten Jahrzehnte der hi®1
gezeigten Zeit, etwa die Jahre 1830 bis 18^’
erweisen sich als eine der schöpferischste11
Zeiten überhaupt. In der Illustration wur<Je
damals, ohne Zweifel angeregt durch d,e
gleichzeitig erfundene Photographie, ohn®
daß man diese damals schon unmittelbar-
d. h. als Autotypie, in den Dienst der Sach®
hätte stellen können, die Reportage erfunde®-
Die großen Zeitschriften des 19. Jahrhundert5’
deren meist kümmerliche Reste sich bis in di®
heutige Zeit gerettet haben, hatten dama«5
ganz ausgezeichnete Illustratoren. Die
sirierte Zeitung“, die Vorläuferin der „Leip'
ziger Illustrierten“, stand fast ein Jahrhunder
lang an erster Stelle, ihr schlossen sich di
verschiedenen Modejournale an, der Wien®
Modenspiegel, die in Leipzig erscheinend®
Schnellposi für Moden, die belehrend®
Blätter, wie das Pfennig-Magazin zur V®r'
breiiung gemeinnüßiger Kenntnisse und da
Hellermagazin; das Illustrierte Familienjoul
nal, das einen Silbergroschen kostete und d>
humoristischen und satyrischen Woche0'
schritten, die „Fliegenden Blätter“ und d®,
„Kladderadatsch“, die allesamt in ihrei
ersten Jahren eine ganz ausgezeichnete Bud1'
kunst repräsentieren.
über die „hohe“ Kunst unterrichten am
schaulichsten die Tafeln über die Muse®0
Jedes Jahrzehnt wird meist von einem ga°
bestimmten Typus vertreten. Für die 50®
Jahre sind’s die klassischen und vaterländ',
sehen Altertümersammlungen, das Kgl. ML
seum der Gipsabgüsse in Dresden, ®L
Waffenhalle des Germanischen Museums..1,
Nürnberg, das Schwanthalermuseum in M°°
chen. In den 60 er Jahren DankberL
Etablissement für architektonische Ornament1^
in Berlin, der Ägyptische Saal des ne°®
Museums, der Kreuzgang im Germanisch®
Museum. _
Ungleich wichtiger aber als die Muse®
waren die riesigen, von der Industrie vera°
stalteten Ausstellungen in London, PafL
Berlin, Wien, die, von der Idee der IndustrieL
sierung des Handwerks ausgehend, schließt0,
nichts anderes brachten, als dessen vollst® jp
digen Niedergang, ebenso wie die Kunst

dem Augenblick zusammenbrach, als sie
fing, eine offizielle gesellschaftliche
legenheit zu werden und man in den gr0.|jii’
jährlichen Ausstellungen zu Paris,
München usw. anfing, eine „Kunst für
zu zeigen. Was damals enstand, zeigeLfle(
Tafeln: „Was man schön fand“. In den L jp
Jahren sind die Hauptvertreter: „Falsfa
der Weinschenke“ von Grüßner, „Thu5° |Y'
im Triumphzug -des Germanicus“ von > 1
„Der neue Bruder“ von Defregger. F1
So sehr die Mannheimer Ausstellung ^1
Recht ist, wenn sie die positiven Seite0
Jahrzehnte 1830 bis 1860 hervorarbeiK”^
scheint sie in der fast nur negativen
der folgenden Zeit doch nicht ganz red
haben. Müssen wir doch bedenken, dnn f(i
mals neben den eben genannten
auch Maler, wie Marees geschaffen
Aber vielleicht auch dem Kunstgewerbe
den wir noch einmal gerechter werden
und es wird sich zeigen, daß auch d® QC'
neben einem’ unendlichen Wust v°°
schmacklosigkeiten. Positives geleistet
 
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