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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 5.1910

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Dessoir, Max: Objektivismus in der Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.3528#0019

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OBJEKTIVISMUS IN DER ÄSTHETIK. 15

Unterschied sollte verhindern, daß die Phantasie des Künstlers eine
Traumphantasie genannt wird, was immer wieder vorkommt. Feinere
Verschiedenheiten bestehen zwischen den magischen Vertauschungen,
die der Traum kennt, und den symbolischen Beziehungen, die in der
Kunst sich finden. Wenn im Traum eine Person diejenige bleibt, die
sie tatsächlich ist, und trotzdem zugleich eine andere sein kann, so
verblaßt diese wunderliche Aufhebung des Identitätsaxiomes zu einem
»Symbol« innerhalb der ästhetischen Wirklichkeit. Oder wenn im
Kunstwerk, wie wir sahen, eigentümliche Zeit- und Raumverhältnisse
herrschen, so sind sie doch geregelter Natur gegenüber der sprung-
haften Willkür, mit der der Traum jene Beziehungen behandelt.

Die einzige wichtige Gemeinsamkeit beider Welten betrifft nicht
ihr Gefüge oder die Grundsätze der Verknüpfung, sondern den Inhalt.
Der Stoff der künstlerischen Schaffenstätigkeit stammt zu einem erheb-
lichen Teil aus der frühesten Jugend des Künstlers; was den Künstler
vor den übrigen Menschen auszeichnet, ist vornehmlich auch dies,
daß er um sich weiß, bis zu den Wurzeln seiner Existenz hinab
(vgl. Ästh. S. 250 ff.). Beim Träumen gelangen wir alle in dieselbe
Tiefe. Denn so viel hat Freuds (im übrigen anfechtbare) Lehre doch
sichergestellt, daß die Traumerlebnisse nicht nur auf körperliche Reize
oder zuletzt gemachte Erfahrungen zurückgehen, sondern sehr häufig
sich auflösen lassen in später vergessene Eindrücke der Kindesseele.
Das Stückchen Kindheit, das — sonst in den untersten Schichten der
Persönlichkeit verborgen — im Traum aufgedeckt wird, es lebt in der
Einbildungskraft des Künstlers. Sonach gibt es eine materiale Ver-
wandtschaft zwischen der Traumphantasie und der künstlerischen
Phantasie. Sie kommt indessen für die Fragestellung des ästhetischen
Objektivismus nur nebenher in Betracht.

Dagegen ist von äußerster Bedeutung die Frage, mit welchen
Voraussetzungen der Geist die Wirklichkeit des Ästhetischen aufbaut.
Freilich, zunächst wäre zu untersuchen, ob es überhaupt ein ästhetisches
Apriori gibt. Aber dann wären sogleich folgende Probleme aufzu-
werfen: Ist die ästhetische Bewußtseinsstellung im letzten Grunde eins
mit dem künstlerischen Verhalten? Sind ihre Bestandteile nur für den
Umkreis des Ästhetischen maßgebend oder haben sie etwa auch dem
metaphysischen Sein (in Begriffen wie Form und Materie, Akt und
Potenz, Idee und Ideenreich) wesentliche Stützen geliefert? Führen
Beziehungen zum Apriori des Naturforschers und des Historikers?
Über alles dieses wird später einmal zu reden sein.
 
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