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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 5.1910

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Schnabel, Heinz: Über das Wesen der Tragödie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3528#0021

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ÜBER DAS WESEN DER TRAGÖDIE. 17

Thema zu stellen vermag, das Drama, als diejenige zu werten, welche
die höchsten Wirkungen ermöglicht.

Das Thema des Dramas, wie wir es heute empfinden, ist zunächst:
Kampf des Willens gegen den Willen. Je stärkere Willenskräfte in
den Kampf geworfen werden, unter je schwierigeren Bedingungen sich
die Einzelwillen Bahn brechen, desto wollüstiger empfinden wir den
Bann, den die Geschehnisse um uns schlingen. Je höher sich nun
der Dramatiker über die primitivsten Absichten erhebt, desto mehr wird
er sich bestreben, das Chaos der Kräfte zu ordnen und in wenige
große Strombetten zu leiten. Er wird den aggressiven Willen auf eine
Seite bringen und auf einen einzigen Träger, den Helden, konzentrieren,
dagegen alle andern Willenskräfte als Widerstände anordnen, die sich
dem Helden entgegenstellen und in deren Überwindung er seine eigene
Kraft erst zur Darstellung bringt.

Wird dieser Antagonismus nun immer höher gesteigert, so tritt von
einem gewissen Punkt ab notwendig der Fall ein, daß der dem Helden
entgegenstehende Widerstand den Charakter einer absoluten Notwen-
digkeit annimmt, die sich praktisch nicht mehr überwinden läßt. Es
ist klar, daß hierin eine Gefahr für die Wirkung des Dramas liegt.
Denn sowie der Wille des Helden an einem stärkeren Widerstand
machtlos abprallt, d. h. in seinem Prinzip aufgehoben wird, so empfinden
wir anstatt des erhöhten Lebensgefühles eine Depression, also eine
Wirkung, die der Absicht der dramatischen wie überhaupt aller Kunst
durchaus widerspricht. Damit nun der Zweck des Dramas nicht völlig
verfehlt, das Bedürfnis des Zuschauers nicht gänzlich getäuscht werde,
ist es nötig, daß der Dichter den Geschehnissen eine Gestalt abgewinne,
in der der Wille des Helden selbst der stärksten Notwendigkeit gegen-
über seine Unabhängigkeit und Freiheit behauptet, ja über diese
triumphiert. Die stärkste Notwendigkeit nun, der sich der Mensch
gegenüber sieht, und der er sich praktisch schlechterdings nicht ent-
ziehen kann, ist der Tod. Ihm gegenüber hat der Mensch praktisch
auch nicht die geringste, auch nur scheinbare Freiheit des Willens,
sondern nur Unterwerfung.

Daraus bestimmt sich nun die höchste Aufgabe des dramatischen
Dichters: zwischen den Widersprüchen von Tod und Sieg, Notwendig-
keit und Freiheit eine Synthese zu finden. Die Form, in der dies ge-
lungen ist, ist die Tragödie, die Wirkung, die sie ausübt, die tragische,
die höchste, die ein Kunstwerk mitzuteilen vermag: das höchste Lebens-
gefühl wird angefacht durch den Anblick einer erschütternden Kata-
strophe, der der Held notwendigerweise unterliegt, über die er aber
gerade durch sein Unterliegen doch Sieger bleibt, so daß aller Schrecken
seines Untergangs nur zum erhöhten Piedestal seiner Größe und

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. V. 2
 
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