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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 5.1910

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Schmarsow, August: Anfangsgründe jeder Ornamentik, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3528#0196

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192 AUGUST SCHMARSOW.

heit erscheinen mag, sie heute noch auf ihre Herkunft untersuchen
zu wollen. Und doch mögen ihre Wurzeln dem Grübler, der ihnen
nachspürt, gar manches Rätsel des ferneren Wachstums zu lösen ver-
sprechen, indem sie erst auf die tiefsten Anfangsgründe hinabreichen,
über die wir Alltagskinder achtlos dahinwandern.

Solche Anfangsgründe liegen auch für die künstlerische Betätigung
vor, die man Ornamentik zu nennen pflegt und als eine der ältesten
solcher Äußerungen, wenn nicht gar als den Uranfang aller Künste
selbst betrachtet. Den heutigen Gelehrten, die sich neuerdings man-
nigfach mit den Anfängen der Kunst beschäftigt haben, scheinen
jedoch gerade diese Anfangsgründe der Ornamentik nicht mehr ge-
läufig zu sein. Daß sie den Kunstphilosophen, die sich leicht in
Abstraktionen verlieren, abhanden gekommen, wäre kaum verwunder-
lich. Wie gern schreiten unsere Ästhetiker noch heute über solche
Niederungen des Lebens auf hohen Stelzen hinweg. Aber auch die
Anthropologen, die nach der Uranlage allgemein menschlicher Art für
die Inkunabeln künstlerischen Schaffens suchen, ja selbst die Ethno-
graphen, die bei primitiven Völkern nach den frühesten Spuren aus-
gemachten Kunstsinnes forschen, ermangeln häufig genug nicht allein
des Rüstzeugs wissenschaftlicher Arbeit, das wir Grundbegriffe heißen
dürften, sondern jeder sicheren Handhabung der Elemente oder doch
des klaren Bewußtseins, auf welche Grundtatsachen es eigentlich an-
kommt, wenn man nicht dem verschwommenen Jahrmarktsgerede ver-
fallen will.

Wenn irgendwo auf dem Gebiete künstlerischer Betätigung von
primitiven Zuständen gehandelt werden soll, wo experimentelle Unter-
suchungen überhaupt noch möglich scheinen, da muß jedenfalls eine
erste Vorbedingung bei den Forschern selbst erfüllt sein: die leben-
dige Fühlung mit den schöpferischen Trieben, die durch kein an-
gelesenes oder irgendwie von außen angenommenes, d. h. bewußt
oder unbewußt erheucheltes Verhältnis zur Kunst ersetzt werden
kann. Auch unsere liebenswürdigsten Ästhetiker mit ihrer literarischen
Erudition pflegen sich darüber nur allzu gern selber zu täuschen.
Kommt in der Völkerpsychologie dann vollends der Wandel der
Motive und die Heterogonie der Zwecke hinzu, so wird eine Ent-
wicklungsgeschichte zusammengewoben, die sich dem Kunstforscher
nur allzubald als rein poetisches, d. h. aus Worten und von ihnen
ausgelösten Begriffen erwachsenes Gebilde der Phantasie erweist, das
zwischen den diskrepantesten Erscheinungen einen innerlich moti-
vierten Zusammenhang herzustellen weiß, nur weil es durch sinnliche
Anschauung der Dinge selber und durch sinnlichen Verkehr mit ihnen
bei solchem Hirngespinnste nicht behelligt wird. Der Kulturhistoriker
 
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