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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 5.1910

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Becker, Eugen: Die Bedeutung von Dur und Moll für den musikalischen Ausdruck
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https://doi.org/10.11588/diglit.3528#0268

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264 EUGEN BECKER.

Derartige Differenzen ergeben natürlich nichts für eine etwaige
abweichende Bedeutung der Tongeschlechter für verschiedene Kom-
ponisten; sie bedeuten nur einen individuellen Unterschied in der
Auffassung des betreffenden Gedichts. Die Möglichkeit dieses Auf-
fassungsunterschiedes ist aber darauf zurückzuführen, daß in der
Poesie der Gefühlsausdruck nicht immer eindeutig bestimmt ist. Wohl
kann sie Gefühle durch die ihnen entsprechenden Begriffe klar be-
zeichnen, aber wo sie das nicht tut, ist es jedenfalls fraglich, ob der
Ausdruck, den der Dichter in seinen Objektiven niedergelegt hat, mit
voller Schärfe daraus wiederzuerkennen ist.

So weiß man etwa bei Goethes »Über allen Gipfeln ist Ruh« nicht
recht, was man mit dem »Warte nur, balde ruhest du auch« anfangen
soll. Schuberts Vertonung (I, 77) schließt jedenfalls schmerzliche
Sehnsucht oder gar Todesahnung aus. Die Musik kennt eben hier
keinen Zwiespalt. Sie hat sich entweder für Dur oder für Moll zu
entscheiden, das heißt einen Inhalt entweder als wesentlich lust- oder
als wesentlich unlustbetont darzustellen.

Diese Wirkung der Tongeschlechter reicht so weit, daß durch ihre
jeweilige Anwendung der Ausdruck eines Gedichtes vollständig ver-
ändert werden kann. Beim Anhören von Schuberts »Heidenröslein«
z. B. kommt einem der schicksalsvolle Ernst der Situation kaum zum
Bewußtsein. Schubert hat nur auf die Form des Gedichtes, die sicher-
lich einen scherzhaften Charakter trägt, Rücksicht genommen und den
Gefühlswert der Form durch die Wahl des Dur auch auf den Inhalt
übertragen.

So können wir für die Wechselwirkung von Poesie und Musik
die bemerkenswerte Tatsache feststellen, daß, wiewohl die Dialektik
der Gefühle erst durch die Beziehung aufs Wort klar wird, doch der
Gefühlswert dem Ton vom Wort keineswegs aufgezwungen werden
kann, sondern daß vielmehr umgekehrt der Ton — vermöge der ein-
deutigen Charakteristik von Dur und Moll — dem Wort die Rich-
tung gibt.
 
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