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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 5.1910

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Vallentin, Berthold: Shakespeares Sonette und ihre Umdichtung durch Stefan George
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https://doi.org/10.11588/diglit.3528#0270

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266 BEMERKUNGEN.

in den urtümlichen, aber altgewordenen Besitz und hob ihn, in neuer geschlossener
Gesamtheit sichtbar, ans Licht').

Erleben wir so zum ersten Male den tragischen Genius der neuen verchrist-
Iichten Zeitalter, ihn einzig ebenbürtig hellenischem Dreigestirn, so ahnen wir noch
entfernt nicht, welche mehr den Maßen unserer heutigen Dichtung entsprechende,
ruhig fest vom Schoß der Leidenschaft heraufgenährte Macht in ihm das Werk-
enger verdichteter Kräfte, ins Zentrum gezwungener Bewegung zu bilden fähig
war. Wie sich erst in diesen Tagen — begreiflich mit der nun erst gewonnenen
Völligung des deutschen Worts — das deutsche Lyrische feststellte, die Bannung
des Gesamtdichterischen in ein gesamtdichterisch vom Zentrum aus bestimmtes
Maß, so konnte nun auch erst des britischen Genius Sammlung und Bändigung in
einem ganz und ohne (theatralische) Beimischung Dichterischen gesehen werden.
Nun erst war die Stunde für die aneignende Ergreifung der Shakespeareschen So-
nette gekommen.

Die große Einheit dichterischer Vision wird notwendig zerteilt ausgestrahlt in
die dramatischen Kräfte, ebenso notwendig zusammengehalten im einen geschlosse-
nen Bau des lyrischen Kunstwerks. Hier dringt — ohne Ableitung durch Neben-
formen (wie beim Drama) — in der einen und geschlossenen Form das Alldichte-
rische in uns. So unmittelbar aus dem 7ia9-o? ringt sich die lyrische Geburt, daß in
ihrer kurzen Entwicklung nichts an ein Neben- oder Zwischenspiel der Kräfte ver-
loren werden kann. Alles was im ursprünglichen dichterischen Umfassen des Er-
lebten war, ist hier auch noch in seiner dichterischen Geburt (darum ist nichts so
ganz voll und so ganz einfach wie das Lyrische).

Darum erleben wir in den Sonetten Shakespeares die vollkommenste und ein-
fachste Offenbarung seines dichterischen Genius. Wenn wir hier den Reichtum der
die Wunder alle in sich tragenden antiken Welt beiseite lassen, kann im einen Zeit-
raum nur Dante, im andern nur Goethe ihm zur Verdeutlichung seiner dichterischen
Kräfte dienen. Jenem glüht noch im Blute, das freilich schon alle Antriebe neuer
Lebensergreifung hat, der Strom der mittelalterlichen lebenbedeutenden Symbole.
Sein Dichterisches ist, wie es in einem kühnen Ansturm alle Erdenreiche mächtig
überherrscht, doch innerlich getränkt mit den Schauern mehr als nur sie selbst be-
deutender Erlebnisse und das Zeitliche verlassender Weissagungen. Sein Eros
umfaßt nicht nur die irdisch ergreifbare Gestalt (obwohl er auch sie umfaßt, was
der so tief fühlende Dowden irrig leugnet) — sondern in ihr auch den überpersön-
lichen, nur dem mittelalterlichen Geist kenntlichen, der ewigen Weltenordnung zu-
gehörigen Kern. Goethe aber, den wir uns immer mehr gewöhnen als den vor-
bildlichen deutschen Menschen anzusehen, trägt, wie er noch die Gewalt hat, des
sinnlich Greifbaren Herr zu sein und es in seinem lebensmäßigen Räume festzu-
halten, doch schon die einschnürenden und lähmenden Kräfte einer verbegrifflichen-
den Bildung in sich. Sein Eros, herrlich genährt an ewigen hellenischen Feuern,
umfaßt nicht nur die lebendigen Gestalten, sondern ihr ganzes sie belastendes
Gut von Kulturassoziationen mit. Von ihnen beiden kann man auf Shakespeare, den
Shakespeare der Sonette, als auf ein Zentrum hin zurückgehn. Sein Eros ist ganz
und allein vom Greifbaren, Gegenständlichen entflammt. (Hier ist heute nicht mehr
die Abwehr der dem Realen in niederen Zeiten anhaftenden Verkleinerungen not-
wendig.) Ihn beherrscht das sinnliche Entzücken erreichbarer Erdenschöne, fremd
ist ihm Vor- und Rückdeutung. Ihm eratmet die sichtbare Gestalt so stark das

') Shakespeare in deutscher Sprache. Herausgegeben, zum Teil neu übersetzt,
von Friedrich Gundolf. Berlin, Georg Bondi.
 
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