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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 5.1910

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Besprechungen.

Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung'. Ein Beitrag zur Stil-
psychologie. München 1908. 8°. 116 S.

Wenn es im Wesen der ästhetischen Betrachtung liegt, eine Erscheinung in
ihrer Eigenart zu erfassen und sie nicht auf Zwecke zu beziehen oder an ethischen
Maßstäben zu messen, so sollte es das Wesen einer ästhetischen Betrachtung der
Kunstentwicklung sein, für jede Zeit und jeden Stil ein eigenes Gesetz zu finden,
einen Grundtrieb, der in den verschiedenen Stilen eigene und besondere Gestal-
tungen hervorbringen ließ, die, mögen sie unserem Urteil und Geschmack wider-
sprechen, unserem ästhetischen Standpunkt zuwiderlaufen, für jene Zeit das künst-
lerisch und ästhetisch Wertvolle bedeuten. Jeder Stil«, sagt Worringer, »stellt für
die Menschheit, die ihn aus ihren psychischen Bedürfnissen heraus schuf, die höchste
Beglückung dar.« Es muß jedem unbenommen bleiben, von seiner Geschmacks-
richtung aus oder seiner theoretisch vorgefaßten Meinung ältere Werke der Kunst
zu verdammen oder nur als unvollkommene Stufen innerhalb einer Entwicklung
aufzufassen, deren Ziel ihm nur in einer bestimmten Art von Kunst erfüllt ist. Für
die historische Gerechtigkeit in der Kunstwissenschaft aber gilt, daß jede Zeit ihre
Schönheit hat, die wir nur verstehen, wenn wir uns in die psychischen Bedürf-
nisse hineinleben, aus denen heraus sie ihre Kunst produziert hat. »Was von
unserem Standpunkt aus als größte Verzerrung erscheint, muß für den jeweiligen
Produzenten die höchste Schönheit und die Erfüllung seines Kunstwollens gewesen
sein.« »Die Stileigentümlichkeiten vergangener Epochen sind also nicht auf ein
mangelndes Können, sondern auf ein anders gerichtetes Wollen zurückzuführen.«
Diese Sätze, deren Anerkennung sich wohl bald kein Ästhetiker mehr entziehen
wird, geben das Programm für jede Stilgeschichte der Kunst, und damit für jede
ästhetische Begründung der Kunstgeschichte. Wir fügen hinzu, daß dieses Wollen
nur erkannt werden kann aus dem Wollen der Zeit überhaupt heraus, ja daß wir
einer Zeit nur Stil zuschreiben, wenn die Form ihrer Kunst mit der Form des
ganzen Lebens, mit dem Weltgefühl durch Übereinstimmung im innersten Wesen
zusammenhängt. So möchten wir lieber sagen, als Worringer, nach dem eine
Psychologie des Kunstbedürfnisses (d. h. Stilbedürfnisses) eine Geschichte des Welt-
gefühles sein und als solche gleichwertig neben der Religionsgeschichte stehen
würde.

Dieser Stilgeschichte steht als stärkster Gegensatz entgegen eine Entwicklungs-
geschichte der Kunst, die ein gleichartiges Kunstwollen durch alle Zeiten hindurch
voraussetzt und die einzelnen Stile nur nach dem Maße der Erfüllung eines voraus-
gesetzten Zieles mißt, die also die Geschichte der Kunst als Entwicklung des
Könnens auffaßt, so wie die Geschichte der menschlichen Zivilisation und Technik
jede vergangene Stufe nur als Basis einer höheren und vollkommeneren betrachtet,
als Geschichte des Lernens und Erfindens. Diese Entwicklungsgeschichte kann
schon als solche materialistisch heißen, da es sich ja um technische Fortschritte
handelt und um die utilitaristische Wertung aller Kulturstufen nicht als Selbstwert,
 
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