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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 5.1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.3528#0474

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470 BESPRECHUNGEN.



worfene Bild einen Standpunkt in seinem Raum, so doch außerhalb des im Bilde
gegebenen Raumausschnittes.

Dieses Außerhalb des Bildes kann auf ein Minimum reduziert werden, wenn
der Standpunkt, der uns durch die Perspektive des Bildes aufgezwungen wird,
einigen Personen oder Gegenständen im Bilde sehr nahe ist, anderen sehr fern, und
diese nahen und fernen Gegenstände ohne Vermittlung im Bilde sich folgen, so
daß wir nicht dem Nahen und Fernen als einem Kontinuum und Ganzen gegen-
überstehen, sondern dem Nahen uns benachbart fühlen und von ihm aus in die
Ferne blicken. Ein solches Beispiel führt Wulff an. Es sind Bilder, Dürers Aller-
heiligenbild, Raffaels Vision des Ezechiel, die einen Gegenstand hoch in den Lüften
zeigen, unter ihm aber in kleinstem Maßstab eine Landschaft mit Figuren und
Bäumen. Hier fühlen wir uns hoch in die Lüfte erhoben, und Gott Vater und seiner
Gesellschaft möglichst nahe. Unter uns versinkt die Erde in der Tiefe und Ferne.
Daß aber dieser Standpunkt »von jedem möglichen äußeren Standpunkt des Be-
schauers völlig unabhängig ist«, können wir nicht zugeben. Denn wie auf diesen
Bildern die Hintergrundslandschaft gesehen ist, so wird jede stark von oben ge-
sehene Landschaft dargestellt, und auch die in der Luft schwebende Gruppe können
wir uns vorstellen als einen Vogel, der vor unseren Augen kreist, wenn wir auf
einem hohen, steil abfallenden Felsen stehen, von modernen Möglichkeiten von Luft-
schiffen und Ballons ganz abzusehen. Das eigentliche Problem liegt nicht in der
»Niedersicht«, wie Wulff diese Erhöhung des Standpunktes infolge der Inkommen-
surabilität verschiedener Pläne im Bilde nennt, sondern darin, ob wir uns auf den
Standpunkt dieser göttlichen Wesen stellen, um in die Tiefe zu sehen, ob also die
Niedersicht durch Einfühlung zustande kommt. Hier hätte Wulff andere Bilder
heranziehen können, moderne, aber auch Bilder der Renaissance (z. B. Wolf Huber),
auf denen ganz nahe, ins Blickfeld seitlich hineinragende oder es wie die Kreuze
eines Fensters durchschneidende Gegenstände unmittelbar vor einer dem Zentrum
des Sehens und Interesses angehörigen Landschaft stehen. Diese Gegenstände,
etwa ein aufragender Hügelrand oder Turm oder ein das Bild durchschneidender
Baum oder womöglich Menschen, die selber auf die Hintergrundslandschaft blicken,
suggerieren uns einen Standpunkt mit einer Kraft, daß wir uns in ihn hineinleben,
in die betreffenden Menschen hineinfühlen müssen und glauben, selber zwischen
diesen Bäumen, unter diesen Menschen, auf diesem Hügel zu stehen und von hier
aus die Landschaft dahinter zu betrachten. In diesen Bildern ist die ästhetische
Illusion verdoppelt, indem nicht nur vor unseren Augen sich ein Bild ausdehnt, das
wir gern sehen, sondern indem wir selber uns in eine fremde Umgebung, unter
Menschen versetzt fühlen, deren Stimmung sich uns mitteilt. Die optische Illusion
wird durch eine poetische unterstützt; poetisch insofern, als das anschauliche Erleb-
nis schon als menschliches Erlebnis, als Gegenwart vorgebildet ist. Bedingung für
das Zustandekommen der poetischen Illusion ist also: einmal die unvermittelte
Aufeinanderfolge von Nähe und Ferne, oder Höhe und Tiefe, wie Wulff erkannt
hat, aber auch, daß die Standpunktsgegenstände nicht im Zentrum des Interesses
stehen, sondern nur wie die Teile unseres eigenen Leibes indirekt gesehen werden
und deshalb nicht als Bild, sondern als bloße Stimmung oder Gelegenheit wirken.
Darum müssen bei solchen Bildern die Personen ins Bild hineinblicken.

Aus dieser letzteren Bestimmung heraus erkennen wir die Beispiele Wulffs als
für die Einfühlungsillusion nicht günstig gewählt. Eine feierlich repräsentative Ge"
Seilschaft schwebt uns zugekehrt in den Lüften vor uns, ist uns entgegengestellt;
um gesehen und verehrt zu werden. Hier stehen also die nach Wulff als Standpunk
geltenden Formen im Vordergrund des Interesses, sie sind das Zentrum des Bilde5'
 
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