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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 5.1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.3528#0482

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478 BESPRECHUNGEN.

Und als Charakteristikum möchte ich erstens eine mit dieser hohen Wer-
tung der Originalität eng zusammenhängende, ausgesprochen fortschrittliche
Tendenz des Buches hervorheben, trotzdem der Verfasser, wie angedeutet, die
Höhepunkte der Musik durchaus in der (sogenannten »klassischen«) Vergangenheit
erblickt, überdies aber eine ungewöhnliche, wenn auch nicht ausnahmslose, Un-
parteilichkeit und eine schmiegsame Vielseitigkeit des Verständnisses, die den
verschiedenen Partien des Buches weitgehende Gleichwertigkeit sichern. Nicht nur
Mozart wie Bach, Schubert wie Beethoven erfahren volle eigenartige Würdigung,
sondern auch Schumann und auf seinem Spezialgebiet (vgl. S. 123) Chopin und
dann wieder diesen gegenüber der »Vertreter« des »äußerlich Kolossalischen«:
Berlioz usw. usw.

Während diese letzterwähnten Charakteristika unzweifelhaft Vorzüge des Buches
zur Folge haben, möchte ich in Frage ziehen, daß die von Spiro gewählte Form
der Darstellung und das ihr zugrunde liegende »Prinzip« für die Darstellung der
Geschichte einer Kunst unbedingte Berechtigung hat, und es erwächst hier ein
ästhetisches Problem allgemeinerer Art.

Denn obwohl es zweifellos ist, daß in einer knappen Darstellung der Ge-
schichte einer Kunst nicht alle, sondern nur die wertvollsten Kunstwerke einen
Platz finden können, so ist es doch schwerlich richtig, daß wirklich die Wertung
eines Kunstwerkes mit Recht in so weitgehende Abhängigkeit von der Wertung
der Originalität des Talentes zu setzen ist, dem es seine Entstehung verdankt.
Die Geschichte einer Kunst ist eben doch letzten Endes nicht identisch mit der
Geschichte ihrer produzierenden Künstler. Und die Wertung dieser Künstler ist
auch nicht identisch mit der Wertung ihrer Originalität. So sehe ich hier einen
prinzipiellen Fehler des Buches, der mitunter zu einer Überspannung der sonst so
erfreulichen fortschrittlichen Tendenz geführt hat und praktisch vielleicht am ver-
derblichsten gewirkt hat, indem er dazu beitrug, daß Spiro Brahms aus der Reihe
der Großen ausschied, weil er in ihm einen »Vertreter der guten, alten, einge-
rosteten Traditionen« (S. 154) erblickt, der »Instrumentalmusik nach klassischen
Rezepten« schreibt usw.; wie Spiro überhaupt dadurch verleitet wird, nicht nur die
von Anfang an unnatürliche »Nummernoper« und die an die höfischen Tanzformen
gebundene »Suite« und dergleichen als überlebt zu verwerfen, sondern ebenso auch
die Sonatenform.

Ich bin also der Meinung, daß die Originalitätswertung durchaus zurücktreten
sollte bei der Auswahl des Stoffes gegenüber der rein-künstlerischen Wertung, die
natürlich auch bei Spiro im Grunde eine wesentliche Rolle spielt; aber ich möchte
noch weiter gehen und behaupten, daß die (eigene und daher doch immerhin sub-
jektive) Wertung überhaupt nicht ausschließlicher Maßstab dabei sein darf,
denn der Darsteller vollends eines solchen für Laien bestimmten Buches besitzt
auch Verpflichtungen gegen die Interessen der Gegenwart — so weit beispielsweise
unbedingt, daß eine heutige Musikgeschichte nicht die Werke eines Rieh. Strauß
ungenannt lassen dürfte, mag auch sein charakterisierendes Schlagwort (er nennt
ihn einen »kalten Detaillisten«) noch so viel Berechtigung haben,

Aber an einem entscheidenden Punkte läßt die Darstellung nicht im Stich — t>eI
Rieh. Wagner. Hier spürt man nicht nur auf das erfreulichste ein aufrichtiges
Ringen um Objektivität, sondern meines Erachtens wird hier sogar in großen Züge'1
der Weg vorgezeichnet, auf dem spätere Generationen einmal sich einigen werden
in ihrer Beurteilung dieser einzigartigen Erscheinung. — Und wenn ich auch nicht
mit Spiro das vergangene Jahrhundert »das Jahrhundert Rieh. Wagners« nennen
möchte, so läßt sich doch vielleicht eine Darstellung der »Geschichte der Musik«
 
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