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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 5.1910

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Lat, Emil: Künstler und Dilettant
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https://doi.org/10.11588/diglit.3528#0595

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BEMERKUNGEN. 591

Inhaltes dieser Vorstellungen indessen lassen sich die Menschen in künstlerisch
phantasiebegabte und -unbegabte unterscheiden, je nachdem ihre seelische Veran-
lagung das Auftauchen und Assoziieren von Phantasievorstellungen, welche ästhe-
tische Gefühlswirkungen auslösen können, begünstigt oder nicht. Zu den Phantasie-
begabten gehören selbstverständlich die Künstler, aber auch die Dilettanten müssen
eingereiht werden, da erstens nicht angenommen werden kann, daß sie sich frei-
willig einem Gebiete zuwenden, dessen Anforderungen ihrem psychischeii Ausleben
Schwierigkeiten bereiten anstatt Erleichterungen, und zweitens die Ableitung des
Wortes uns belehrt hat, daß der Dilettant von vornherein auf Lustgefühle ausgeht,
die ihm nur das ungehinderte Spielen der Seelentätigkeiten gewähren kann.

Jede Phantasievorstellung hat ihren Inhalt und ihren Umfang. Ist vielleicht in
dem einen oder dem anderen dieser Punkte ein Unterschied zwischen Künstler und
Dilettanten zu beobachten? Daß die Wucht oder die Bedeutung dieser Phantasie-
vorstellung entscheidend wäre insofern, als man die für die Auffassung des Daseins
als ästhetische Erscheinung neue Gesichtspunkte aufdeckenden Konzeptionen dem
Künstler vorbehielte, während der Dilettant sich mit jenen Phantasievorstellungen
begnügen müßte, die das Dasein von einer niederen Warte betrachten? Hierfür
fehlt es an entscheidenden Beweisen, obwohl natürlich der Dilettant die weniger
bedeutenden Inhalte, die ein vergnüglicheres Spiel gestatten, bevorzugt, wovon
später mehr zu sagen sein wird. Oder verhält es sich so, daß der weitere Umfang
des ganzen Vorstellungskomplexes den Künstler ausmacht? Daß für ihn die Leichtig-
keit und Schnelligkeit, mit der an die ursprüngliche Phantasievorstellung alle übrigen
Vorstellungen sich anschließen, charakteristisch wäre? Auch dem widerspricht die
Erfahrung. Wie zögernd und schwerflüssig geht die Entwicklung des ersten Keimes
in der Phantasie manches Künstlers vor sich, und wie leicht fügen sich wieder bei
einem weniger wählerischen Dilettanten neue Vorstellungen an die ursprünglichen,
den Umfang mühelos erweiternd. Ich glaube, »Madame Bovary« hat sich langsamer
entwickelt als die weit um sich greifende Fabel eines Familienblattromanes.

So gibt uns weder der Inhalt, noch der Umfang, noch auch das Tempo des
Anwachsens einer Phantasievorstellung eine Handhabe, um zwischen Künstler und
Dilettant eine Grenze zu ziehen. Dann bleibt uns nur zu sagen:

Der Unterschied zwischen beiden liegt in den die Phantasievorstellungen wie
alle anderen psychischen Vorgänge begleitenden Gefühlen, genauer gesagt, in dem
verschiedenen Grade der Intensität des Gefühlsverlaufes. In Kürze könnte man das
gegenseitige Verhältnis dahin bestimmen: Was beim Künstler Affekt ist, ist beim
Dilettanten lediglich Gefühl.

Vorerst muß betont werden, daß mit der Bezeichnung »Gefühl« hier selbst-
verständlich nicht einfache, elementare Gefühle gemeint sind, sondern Totalgefühle
höherer Ordnung, deren Bestandteile jene elementaren Gefühle bilden. Sind doch
die Phantasievorstellungen, von denen wir sprachen, bereits sehr zusammengesetzte
Gebilde, denen auf der Gefühlsseite ebenfalls zusammengesetzte Produkte ent-
sprechen müssen. Nun unterscheiden sich bekanntlich Gefühl und Affekt durch den
Intensitätsgrad voneinander; wobei nicht zu übersehen ist, daß der Intensitätsunter-
schied auch Verschiedenheiten im ganzen Ablauf der Gemütsbewegungen bedingt,
insofern der Affekt deutlich in Anfangsstadium, Höhepunkt und Abstieg zerfällt,
während das minder lebhafte Gefühl diese Stadien mehr ineinander fließen läßt.
Graphisch dargestellt, würde der Affekt einer lebhaft bewegten Kurve, das Gefühl
etwa einer schwachen Bogenlinie gleichen.

Der Affekt äußert sich ferner in triebartigen Bewegungen: auf diese »Ausdrucks-
bewegungen«: lassen sich in letzter Linie alle künstlerischen Äußerungen zurück-
 
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