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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 5.1910

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604 BESPRECHUNGEN.

gerungen« (S. 35) — als ob Wolfram, Walther, ja Heinrich v. Morungen nicht
zwanzigmal mehr Persönlichkeit gäben als alle Anakreontiker zusammen!

Und was hilft alles dies Theoretisieren? Der Verfasser muß ja doch bei der
vielgescholtenen Philologie in die Lehre gehn. Das herkömmliche Schelten auf die
»Parallelstellen« — von denen die Scheltenden selten mehr kennen als den Ter-
minus — hindert ihn nicht, seine Anschauung von den Anfängen des Minnesangs
(S. 36) einem bekannten Aufsatz zu entnehmen, der lediglich auf diese Technik ge-
baut ist. Oder unmittelbar nachdem er (S. 330) gegen die »Naivität« protestiert
hat, das große Lebensgefühl »aus den Zufällen des persönlichen Lebens zusammen-
zuholen«, führt er (S. 331) mit starkem Mißbrauch der »biographischen Methode«
Hölderlins ganze Entwicklung auf die Unannehmlichkeiten der Klosterschule zurück!
Wie denn überhaupt Klarheit seine Stärke nicht ist; bei gewissen Deklamationen
(wie S. 12 über »zentrifugal« und »zentripetal«) kann man sich wenig denken; die
Verteidigung Goethescher Zeitlosigkeit (S. 287) streift dicht an die Phrase, und die
Wendung von den Urgründen (S. 293) klingt wie ein bedenklicher Wortwitz.

Wir gestehen aber willig zu, daß dies alles mehr Beiwerk sei. Worauf es dem
Verfasser vor allem ankommt, das ist nach seinem eigenen Bekenntnis dies: den
geistigen Mittelpunkt zu erkennen, aus dem eines jeden Dichters Eigenart mit innerer
Notwendigkeit fließt. Wer würde hier nicht freudig zustimmen? Auf nichts anderes
zielen wir ab, wenn wir durch die Laufgräben der Parallelen und die Breschen
der persönlichen Geständnisse in die Zitadelle der Persönlichkeit einzudringen suchen.
Gewiß versäumt die philologische Literaturgeschichte nur zu oft über dem Weg
das Ziel; mit Recht hat ein Hauptvertreter der Versöhnung von Philosophie und
Philologie, Oskar Walze!, neuerdings oft so nachdrücklich gemahnt, über den
Schriften die Menschen nicht zu vergessen. Aber auch hier ist doch eine breite
Kenntnis notwendige Grundlage, wenn man nicht in die Irrwege der Inspirations-
philologie Herman Grimmscher Homerkritik — wer denkt noch an sie? — geraten
will. Würde einige Vertrautheit mit der Gesamtliteratur des 17. Jahrhunderts nicht
gezeigt haben, daß die Schäferlyrik des 17. Jahrhunderts (S. 50) keine andere »Ver-
logenheit« enthält als eben jede leidenschaftliche Sehnsucht? nicht mehr Verlogen-
heit als etwa die Utopien staatlich gedrückter Epochen? Wäre einem Kenner der
Aufklärungszeit dies (S. 15S) eine »seltsame Erscheinung«, daß der Rationalismus
zugleich das Zeitalter der Empfindsamkeit ist — da er doch gerade aus dem Phil-
anthropentum erwachsen ist? da er doch gerade deshalb alle Dogmen befehdet,
um überall »Brüder« umarmen zu können? Die Flachheit der Auseinandersetzungen
über das Verhältnis von Wissenschaft und Dichtung (S. 48, 116) hätte jede Ver-
tiefung in das gemeinsame Element beider, hätte jede Betrachtung von Gestalten
wie Platen oder Dante unmöglich gemacht.

So bleibt also nur die isolierte Betrachtung der Dichter selbst, durch gewisse
Kontrastierungen (z. B. Schubart und Günther S. 181) künstlich zu einer »Geschichte
der Lyrik« verbunden. Willkürlich setzt sie mit Spee ein, dessen »künstlerische
Höhe« (S. 63) nur aus jenem Gesichtspunkt zu erblicken ist, für dessen Doktrin das
vierblättrige Kleeblatt Hölderlin, Goethe, Novalis, Hebbel (! S. 25) das lyrische Maxi-
mum darstellt. Die treibenden Kräfte unserer Lyrik werden durchweg unterschätzt,
am erstaunlichsten Klopstock, über den Witkop Schubart erhöhen möchte. Dieser
leidenschaftliche Politiker, Patriot, Freund soll (S. 168) zu wenig Mensch gewesen
sein! er, der die Natur als verbindende Freundin erst wieder entdeckte! Brockes wird
sehr hübsch beleuchtet, aber durch die falsche Bezeichnung als »Sinnenmensch«
(S. 100) erst in falsches Licht gesetzt. Claudius wird unterschätzt; zu Goethe findet
der Verfasser kein rechtes Verhältnis und in Schillers Glocke sieht er (S. 323) ein
 
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