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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0267

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BESPRECHUNGEN. 261

seinem Leben und Schaffen zwanglos in sich aufnehmen würden. Es zeigt sich
nun aber, daß Wandreys Mittel gar nicht ausreichen, um eine Fülle kennzeichnen-
der Einzelheiten unter kräftige Hauptbegriffe zu vereinigen. Voll innerer Un-
sicherheit bleibt er schließlich wieder an zeitlichen Ordnungen und bloßen Stoff-
lichkeiten hängen, und wir spüren wenig von dem Mute, in die Wirklichkeiten
einzubrechen. Nicht als ein Ersatz dafür kann es gelten, wenn Wandrey die Gestalt
Fontanes auf einem »Urerlebnis« aufzubauen versucht. Wir verkennen nicht die
grundlegende Bedeutung dieses Erlebnisses, das sich durch die Worte: Gesetz und
Gnade, andeuten läßt, halten es aber nicht für statthaft, dies Erlebnis wie einen
Universalschlüssel zu verwenden. Auf solche Weise werden Gestalten verflüchtigt
und schematisiert, nicht monumentalisiert. Diese Neigung, die Fülle der Erschei-
nungen in Ein Schema zu bringen, die bei Wandrey ein Gegenhalt seiner inneren
Unsicherheit ist, trägt bei zu den groben Verkennungen einiger Fontanischer Meister-
werke (Stechlin, Unwiederbringlich), worauf schon H. Maync aufmerksam gemacht
hat (vgl. Lit. Echo vom l.Febr. 1921). Freilich dürfte daran auch ein noch tiefer
''egendes Gebrechen Teil haben, ein ganz eigenartiger Mangel an cöto/ie* ini Ge-
wahrwerden. Dieser offenbart sich ja schon in der ganzen Anlage des Buchs, d. h.
ui der starken Einschränkung des Blicks auf die Dichtwerke, weil der Verfasser
glaubt, in ihnen vornehmlich die reine Substanz Fontane zu finden. Dagegen
werden unter anderem die Briefe Fontanes sehr oberflächlich abgefertigt. Und doch
haben sie nicht nur als Zeugnisse männlicher Selbstbesinnung, sondern auch als
Äußerungen eines einzigartigen geistigen Spiel- und Plaudertriebes ihren unver-
gleichlichen, gar nicht minderen Wert neben den Dichtungen. Zwar darf man an
s,e nicht die Schraube pedantischer Richtigkeitsfragen anlegen und Fontane auf den
jnhalt jedes Satzes verpflichten wollen, wie das vielfach geschehen ist. Wenn
lrgendwo, so gilt hier der Satz, daß der Ton die Musik macht. Dem Feinhörigen
aber werden sie fast mehr als alle »Dichtungen« Fontanes vom Geiste des Ver-
fassers verraten können. Freilich muß man sich zu ihrer Würdigung einen unbe-
fangenen Sinn für das bewahrt haben, was heute manchmal geringschätzig das
Momentan-Gegenwärtige genannt wird, für hingewehte frischeste Gedanken, Kaprice,
wie wenig wird doch Wandreys feierlicher Ernst dem wesentlichsten Zuge Fonta-
mschen Wesens gerecht: der Grazie, launigen Beweglichkeit, leisen Schwebe zwi-
Schen Ernst und Scherz, die es nicht duldet, daß jedes Wort vollgewichtig ge-
n°mnien werde.

Die erwähnte Unsicherheit Wandreys zeigt sich auch in seinem Sprachgebrauch.
">an beachte, wie Wandrey die Begriffe »Realismus und epische« Kunst verwendet.
L>en Begriff »Realismus« faßt er ungefähr ebenso wie z. B. O. Brahm (vgl. den
tssay über G. Keller von 1883), wo er den allgemeinen Gegensatz zum »Roman-
ischen« und »Phantastischen« bedeutet. Im Hinblick auf die Tendenzen aber, die
" andrey verfolgt, und im Zusammenhang seiner Begriffe, besitzt der übernommene
°egriff keineswegs dieselbe Kraft wie bei dem Naturalisten Brahm. Das besondere
Wirklichkeitsbewußtsein, das Fontanes Kunst zugrunde liegt, wird nicht hinreichend
aufgedeckt. Ähnlich verhält es sich mit Wandreys Begriff vom Epischen. Es liegt
m,r fern, Wandrey auf einen bestimmten Begriff von vornherein festnageln zu wollen.
Andreas Heusler verwendet in seinem Buche Lied und Epos« das Wort »episch«
anders als Viktor Hehn, wenn er über Goethes Hermann und Dorothea spricht.
*ber beide Male ist der Begriff am Gegenstand entwickelt und besitzt charakteri-
s'erende Kraft. Wandrey gebraucht das Wort »episch« nur allzusehr in jenem ganz
^"gemeinen blassen Sinne, in dem wir es heute gern auf alle erzählende Prosa-
"eratur von einigem dichterischen Rang anwenden. Und doch soll Fontanes Kunst
 
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