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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

DOI issue:
Heft 4
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Jordán de Urríes y Azara, José: Ästhetische Sondernormen der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0460

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454 JOSE JORDAN DE URRIES Y AZARA.

daß beim Anhören einer Symphonie oder beim Betrachten eines Ge-
mäldes der Zuhörer oder Zuschauer mit aller Sicherheit davon über-
zeugt ist, daß das, was er hört oder sieht, ein dem Menschen zu ver-
dankendes Erzeugnis ist, also kein Werk der Natur.

Aber diese Gewißheit soll dem Betrachter nicht in solcher Weise
werden, daß sie ihn in jedem einzelnen Augenblick der Betrachtung
verfolge, ohne Unterlaß. Denn allerdings weiß ich beim Besuche des
Museums genau, daß ich mit der Absicht dorthin gehe, von Menschen-
hand geschaffene ästhetische Erzeugnisse zu sehen; beim Betreten eines
Konzertsaales weiß ich, daß ich von Menschen kombinierte Töne zu
hören bekommen werde. Aber wenn ich mich der Betrachtung der
Gemälde, dem Genuß der musikalischen Rhythmik hingebe, so unter-
lasse ich alles bewußte Denken an jene Grundtatsache; ich unterlasse
es mehr oder minder vollständig, je nach dem Grade der Aufmerk-
samkeit, die ich dem Werk selbst schenke. Das heißt: Damit jene
Gewißheit in mir in ausdrücklicher Weise erscheine, ist es nötig, daß
ich überlege, was ich tue. Aber gerade die Art, wie jene Überlegung
dann in meinem Bewußtsein zum Vorschein kommt, deutet mir an,
daß sie bei mir immer in potentieller Weise besteht, daß mich nie die
Möglichkeit verläßt, sie anzustellen. Und die in Rede stehende Gewiß-
heit sagt uns mit untrüglicher Deutlichkeit, daß das, was wir vor uns
haben, nicht natürlich, daß es künstlich ist. Daß also die von uns
bewunderte Schönheit nicht Naturschönheit sondern Kunstschönheit
ist. Und daraus folgt, wenn es sich um nachahmende Kunst handelt,
wie Malerei und Bildhauerei, daß wir, sofern wir das eigentlich Künst-
lerische suchen, von den natürlichen Schönheiten absehen müssen, die
etwa dort wiedergegeben sein mögen. Wir müssen diejenigen Reize
beiseite lassen, die uns zwar ästhetischen Eindruck machen, aber nicht
der Kunst als solcher zu verdanken sind. Überdies müssen wir, wie
beim Betrachten der natürlichen Schönheit auch, alle Gedankenverbin-
dungen abschneiden, die gewisse mit der ästhetischen Haltung unver-
einbare Wünsche hervorrufen würden. Mithin werden wir vor dem
Kunstwerk gezwungen sein, von allem abzusehen, was darin nicht vom
Menschen hervorgebrachte Schönheit ist. Volkelt weist in diesem
Zusammenhange auf das Bestreben gewisser Künstler hin, so zu ver-
fahren, daß bei ihren Erzeugnissen natürliche, also gegenständliche
Schönheit keine Rolle spielt, und zwar zu dem Zwecke, ihre rein künst-
lerischen Wirkungen so besser zum Ausdruck zu bringen.

Man könnte nun glauben, daß wir mit der Bezeichnung »Artefakt«,
die wir jedem künstlerischen Erzeugnis geben, bereits vom Gegen-
stand der Kunst aus eine besondere künstlerische Norm gefunden
hätten. Dies trifft jedoch nicht zu. Denn diese Norm reicht von vorn-


 
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