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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 35.1941

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Wocke, Helmut: Rilkes Grabspruch
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https://doi.org/10.11588/diglit.14214#0033
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RILKES GRABSPRUCH

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in ihm blühend. Überfließend „von Innenraum" (3, 225), den Sommer in
einen Traum wandelnd, voll Zauberkraft.

Ne parlons pas de toi. Tu es ineffable

selon ta nature.

D'autres fleurs ornent la table

que tu transfigures.

On te met dans un simple vase, —

voici que tout change:

c'est peut etre la meme phrase,

mais chantee par un ange. (Poemes franjais, S. 91)

Ihr Inneres gleicht einem „angelischen Raum, in dem man sich still
hält"3). Und die Kunst? „Einzig das Lied überm Land / heiligt und
feiert" (3, 331). Die Rose: schwindend (wie Orpheus) und (wie er) das
Hiersein übertretend. Sie übersteigert sich selbst in ihrer Fülle, ihrer
Schönheit. Tragik des zu höchster Pracht entfalteten Daseins: das über
die Grenzen des Irdischen hinausgehend uns mitzieht in die Ferne eines
Himmels, der sich über uns, den Vergänglichen, leuchtend und lockend
wölbt. Rätsel des Kunstwerks. Allmacht der Seele, die das Ewige in uns
ist, das wir außer uns Gott nennen. Die jenseits von Raum und Zeit lebt.
Der Dichter aber, vor dem Begreitlich-Unbegreiflichen stehend, formt und
bildet es, ballt es im Wort, unter dem Zwang einer höheren Kraft. Er ist
Gegenwart und Zukunft in Einem. Sucht festzuhalten, was sich ihm (oft)
erst ganz offenbart, wenn es Gestalt gewonnen hat im Gedicht. „Der Leier
Gitter zwängt ihm nicht die Hände. / Und er gehorcht, indem er über-
schreitet" (3, 317). Im Wort sich selbst übertreffen, sich voraus sein, sich
dort befinden, wohin der Künstler in den Augenblicken des Schaffens das
Wort (noch) nicht zu begleiten vermag. Ur-Kraft der Seele. Über-, unter-
natürliches Ich, fern von dem Erfahrungs-Ich. Kunst: Ferne und Nähe.
Auch in der sprachlichen Form: fern und nah. Das im Werk sich Offen-
barende, das im Werk Geoffenbarte, das schauend im voraus Erlebte gilt
es dann, in das Sein des Tages und des eigenen Wesens, gleichsam ins
eigene Irdische einzufügen. Jede geistige Schöpfung erwächst über Ab-
gründen, ist (oder war) ein Schlachtfeld. Aber sie i s t. Und ist in diesem
Sein ein Werden, genauer: ein Gewordenes, also Vergangenheit. Doch
auch Zukunft: ist Vorstoß in die Mitte der Welt, in deren Gesamt mit
ihren tausendfältigen Verzweigungen, mit ihren mannigfachen Wider-
sprüchen, die ja die Einheit verbürgen und Einheit sind: vor dem Antlitz
der Ewigkeit. Das Gesamt, das All erahne, schaue, erfasse ich von meinem
Innersten her, weil ich das All selber in mir berge und es, ein Unsichtbares,

3) Briefe 1914—1921, S. 94.
 
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