DIE ÜBERWINDUNG DES BAROCK IN DER DEUTSCHEN LYRIK 205
Besondere — dazu bestimmen. Nicht mehr das Glaubensgefüge der Reli-
gion ist das Wesentliche, sondern die Innerlichkeit des Menschen. Wo
sie da ist, da ist das Göttliche. Darum kann der edle Mensch zur Offen-
barung des Göttlichen werden. Und Gemeinschaft mit dem edlen, dem
verinnerlichten, dem strebenden Menschen wird zur Pflege des Besten in
uns. Aus solchem Geiste heraus nannte der vom Pietismus herkommende
jungverstorbene Pyra die Freundschaft etwas Heiliges und die an seinen
Freund Lange gerichteten Gedichte (1735—44) „heilige Dichtung".
Das klang unerhört, fast lästerlich. Denn im Barock gehörten Freund-
schaftsgedichte zur weltlichen Dichtung und nur Gegenstände der Reli-
gion zur geistlichen, „heiligen" Dichtung. Lange gab 1745 des verstor-
benen Freundes Gedichte heraus, und in Langes Kreise erhielt im Jahre
-darauf der junge Klopstock entscheidende Anregungen. Ihm wie Pyra
ist diejenige Dichtung heilig, die aus dem religiösen Gefühl des Dichters
kommt. Religiös erlebt werden bei Klopstock aber nicht nur die Gegen-
stände des Christentums, sondern ebenso auch die innerweltlichen Be-
gegnungen, die Natur, die Liebe, die Freundschaft, die Gemeinschaft des
Volkes, das zeigen seine Oden, aber auch der „Messias". Im Barock war
das Entscheidende die Sache, der Inhalt, geistlich oder weltlich; jetzt ist
es das menschliche Gefühl. Je mehr nun aber der Mensch und seine
Religiosität Gegenstand der Dichtung wird, desto mehr verschwindet die
kirchliche Dichtung: Die große Blüte des Kirchenliedes ist nun gänzlich
vorüber, mit Neander und Tersteegen läuft sie ins 18. Jahrhundert aus.
Statt dessen gibt es jetzt eine neue religiöse Lyrik: Ihr Vorklang sind
Pyras Gedichte, ihre erste große Leistung Klopstocks Oden, ihre Weiter-
entwicklung zeigen Goethe — von Gedichten wie „Ganymed" und „Gren-
zen der Menschheit" bis hin zu den großen Weltanschauungsgedichten
der Gruppe „Gott und Welt" — und Hölderlin — von den jugendlichen
Hymnen an die Ideale der Menschheit bis zu den späten Gesängen.
In dieser neuzeitlichen Dichtung, welche vom Menschen und seiner
Welt ausgeht — ausgehen muß —, steht als ein ihm Gegebenes und reli-
giös E^ebtes die Natur mit an erster Stelle. Die Gedichte von Klopstock,
Goethe, Hölderlin zeigen es immer wieder. Wo hat diese Entwicklung
begonnen? Das Naturgedicht ist in reiner Gestalt erst spät hervor-
getreten. Es ist immer ein Kennzeichen des Neuzeitlichen, ähnlich wie
das reine Landschaftsbild in der Malerei.
In der geistlichen Dichtung ist seit dem Mittelalter die Natur —
sofern sie überhaupt genannt wird — eng auf Gott und den menschlichen
Heilsweg bezogen. Für das Barock sind die Dinge der Natur „Emble-
mata" oder „Sinnenbilder". Die einzelne Erscheinung in der Natur wird
allegorisch gedeutet und hat nur so einen Sinn. Daniel v. Czepko deutet
den Frühling so, daß die Verjüngung der Natur den Menschen daran
Besondere — dazu bestimmen. Nicht mehr das Glaubensgefüge der Reli-
gion ist das Wesentliche, sondern die Innerlichkeit des Menschen. Wo
sie da ist, da ist das Göttliche. Darum kann der edle Mensch zur Offen-
barung des Göttlichen werden. Und Gemeinschaft mit dem edlen, dem
verinnerlichten, dem strebenden Menschen wird zur Pflege des Besten in
uns. Aus solchem Geiste heraus nannte der vom Pietismus herkommende
jungverstorbene Pyra die Freundschaft etwas Heiliges und die an seinen
Freund Lange gerichteten Gedichte (1735—44) „heilige Dichtung".
Das klang unerhört, fast lästerlich. Denn im Barock gehörten Freund-
schaftsgedichte zur weltlichen Dichtung und nur Gegenstände der Reli-
gion zur geistlichen, „heiligen" Dichtung. Lange gab 1745 des verstor-
benen Freundes Gedichte heraus, und in Langes Kreise erhielt im Jahre
-darauf der junge Klopstock entscheidende Anregungen. Ihm wie Pyra
ist diejenige Dichtung heilig, die aus dem religiösen Gefühl des Dichters
kommt. Religiös erlebt werden bei Klopstock aber nicht nur die Gegen-
stände des Christentums, sondern ebenso auch die innerweltlichen Be-
gegnungen, die Natur, die Liebe, die Freundschaft, die Gemeinschaft des
Volkes, das zeigen seine Oden, aber auch der „Messias". Im Barock war
das Entscheidende die Sache, der Inhalt, geistlich oder weltlich; jetzt ist
es das menschliche Gefühl. Je mehr nun aber der Mensch und seine
Religiosität Gegenstand der Dichtung wird, desto mehr verschwindet die
kirchliche Dichtung: Die große Blüte des Kirchenliedes ist nun gänzlich
vorüber, mit Neander und Tersteegen läuft sie ins 18. Jahrhundert aus.
Statt dessen gibt es jetzt eine neue religiöse Lyrik: Ihr Vorklang sind
Pyras Gedichte, ihre erste große Leistung Klopstocks Oden, ihre Weiter-
entwicklung zeigen Goethe — von Gedichten wie „Ganymed" und „Gren-
zen der Menschheit" bis hin zu den großen Weltanschauungsgedichten
der Gruppe „Gott und Welt" — und Hölderlin — von den jugendlichen
Hymnen an die Ideale der Menschheit bis zu den späten Gesängen.
In dieser neuzeitlichen Dichtung, welche vom Menschen und seiner
Welt ausgeht — ausgehen muß —, steht als ein ihm Gegebenes und reli-
giös E^ebtes die Natur mit an erster Stelle. Die Gedichte von Klopstock,
Goethe, Hölderlin zeigen es immer wieder. Wo hat diese Entwicklung
begonnen? Das Naturgedicht ist in reiner Gestalt erst spät hervor-
getreten. Es ist immer ein Kennzeichen des Neuzeitlichen, ähnlich wie
das reine Landschaftsbild in der Malerei.
In der geistlichen Dichtung ist seit dem Mittelalter die Natur —
sofern sie überhaupt genannt wird — eng auf Gott und den menschlichen
Heilsweg bezogen. Für das Barock sind die Dinge der Natur „Emble-
mata" oder „Sinnenbilder". Die einzelne Erscheinung in der Natur wird
allegorisch gedeutet und hat nur so einen Sinn. Daniel v. Czepko deutet
den Frühling so, daß die Verjüngung der Natur den Menschen daran