Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 35.1941

DOI Artikel:
Wocke, Helmut: Hölderlin im Spiegel deutscher Dichtung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14214#0257
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
HÖLDERLIN IM SPIEGEL DEUTSCHER DICHTUNO 243

Was mag den Schaffenden veranlassen, einen Künstler darzustellen —
in einem Gedicht, einem Drama, einer Novelle, einem Roman? Er will
sich zu ihm bekennen, verehrend, liebend, dankend. Er fühlt sich bestätigt
oder ermutigt. Das Bewußtsein innerster Verwandtschaft zieht ihn zu ihm
hin — oder er sieht in ihm Züge, die ihm selber fehlen und die er ersehnt,
ohne sich's vielleicht einzugestehen und eingestehen zu dürfen. Oder er
deutet in dem anderen seine eigene Art, aber im Abstand. Er gibt sich in
einer Maske, sein Wesen offenbarend, indem er es verhüllt; sein Wesen
verhüllend, indem er es offenbart. Oder es lockt ihn das Einmalige der
Persönlichkeit. Und entschließt er sich zu einer umfassenden Schilderung,
so braucht er Einzelheiten, und wenn die Überlieferung sie nicht bietet,
muß er sie „erfinden". Leicht läßt er sich da von dem Gesichtspunkt leiten,
daß das Ungewöhnliche den Geschmack der Leser reizt... er dringt dann
nicht in Tiefen vor, geschweige denn bis zu jenen Schichten, in denen
unser Schicksal ruht. Sofern er ein kulturgeschichtliches Gemälde liefern
will, läuft er Gefahr, die verflossene Zeit in mancher Beziehung mit der
eigenen zu vertauschen oder gar Bestrebungen der Gegenwart (künstlich)
in die Vergangenheit hineinzulegen. Das Buch birgt in diesem Falle etwas
Zwiespältiges und erwächst zu keiner geschlossenen Einheit. Mehr oder
minder versteckt enthält es Mahnungen, Warnungen, aber es ist nicht
„selbwahsen", ist nicht aus der Eigengesetzlichkeit des Kunstwerks ge-
worden. Der Darstellung fehlt das Überzeitliche, sie erhebt sich nicht zur
Ewigkeit eines Symbols, sondern bleibt dem Alltäglichen verhaftet, ohne
die rätselhaften Gründe aufleuchten zu lassen, vor denen die Geschehnisse
wie flüchtige Erscheinungen vorüberhuschen- Die meisten Schriftsteller
(und deshalb sind sie Schriftsteller, nicht Dichter) begnügen sich mit dem
Nachzeichnen von Schicksalen und Begebenheiten. Sie tragen „Scheue, an
die Quelle zu gehn", wie es in Hölderlins „Andenken" heißt. Aber der
letzte Wesensgrund, aus dem das ewige Werk (das Ewige i m Werk) auf-
steigt, ist das All unserer Seele, der grenzenlosen, unzerstörbaren. Im
anderen will es der Künstler fassen und deuten. Für einen Augenblick mag
das Geheimnis sichtbar werden, der Schleier vor dem Rätsel gehoben sein,
dann sinkt alsbald wieder das Dunkel herab. Doch der Schöpferische hält
fest, was ihm in diesem Augenblick, der ja Ewigkeit ist, offenbar wurde.
Die Mittel freilich, die ihm zur Verfügung stehen, sind begrenzt in ihrer
Ausdrucksmöglichkeit. Unendliches wird gestaltet in endlichem Stoff. Und
zudem lebt jeder Künstler in seiner, oft festumzirkten, zugleich vom
All gespeisten, erfüllten und erhellten Welt. Er sieht, was er in Wahrheit
ist — was er in seiner Sehnsucht sein möchte (auch die Sehnsucht ist unser
eigenstes Ich). Seine Welt überträgt er in das Innere des andern, ihn
wandelnd nach dem Gesetze seines eigenen Wesens, ihn messend mit
 
Annotationen