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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 35.1941

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Wocke, Helmut: Hölderlin im Spiegel deutscher Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14214#0258
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HELMUT WOCKE

seinem, also einem fremden Maß. Ist nicht Denken ein Abweichen,
Abirren von dem Ur-Bild? Niemals entspricht die Erinnerung völlig dem
zugrundeliegenden Erlebnis; dieses bleibt in uns haften, in unserem Ge-
dächtnis. Aber wird das so Bewahrte ins Außen verlegt, soll es Gestalt
finden im Wort, dann verliert es sein Eigenstes, sein Ur-Wesen — es ist
nicht mehr das, was es in Wahrheit war als ein ewig Seiendes. Niemals
deckt sich das Abbild mit dem Ur-Bild. Das gilt von dichterischer wie von
wissenschaftlicher Darstellung. Auch der Historiker vermag nicht zu schil-
dern, wie es in jeglicher Beziehung in Wirklichkeit war, auch nicht bei
strengster Verleugnung des Ich, auch nicht bei dem heißesten Bemühen,
das Ich völlig auszulöschen und es im Strom der Geschehnisse untergehen
zu lassen. Schöpferisch oder nicht, formen wir — auch der Mensch des
Alltags, als Nicht-Künstler, trotzdem „dichtend" — an dem Bilde unserer
Großen, an dem des Mitmenschen, vor allem an dem der uns Nahestehen-
den, uns selbst unbewußt. Selbst wenn es nicht in unserer Absicht liegt,
wenn wir nichts als die Wahrheit ergründen möchten, schaffen wir mit
an einer Legende, die sich weiterbildet, wachsend und anwachsend, und
die i s t und deren Vollendung im Unsichtbaren wir nicht aufzuhalten ver-
mögen. Hier walten geheime Gesetze, die wir in ihren letzten Tiefen und
Ursachen nicht ergründen. Doch sie sind. Und unsere Anschauungen
von einem Großen wiederum — die Anschauungen, die wir in uns, die sich
in uns formen — fußen vielfach auf den Aussagen der Früheren und sind
zugleich wir selbst. Doch auch wir sind ja in dem Einen, Ewigfließenden,
Allumfassenden. wir selbst und die, welche waren... ein Einheitliches
in einem Gespaltensein, trotz der Trennung, durch die Trennung. Ebenso
sind dem Einfühlungsvermögen bestimmte Grenzen gesetzt, mag das Be-
mühen, den Künstler ganz zu erfassen, noch so groß und aufrichtig sein.
Wird dieses Streben nicht heimlich von dem Wunsche geleitet oder durch-
kreuzt, den anderen so zu sehen, wie wir ihn sehen möchten, sehen müs-
sen? Vielleicht, um uns das Bild nicht zu zerstören, das wir von ihm in
unserer Seele tragen, das uns in unserer Sehnsucht bestärkt und ermutigt,
das möglicherweise für uns Selbsterhaltung bedeutet, wenn wir in unse-
rem Ringen gefährdet sind oder gar dem Schiffbruch nahe. Und das Bild eines
Großen, ehrfürchtig aufgenommen, vermag ja in Stunden der Gefahr, in
Zeiten vaterländischer Not dem Einzelnen wie einem ganzen Volk Rettung
zu sein, kann Wegweiser werden für eine neue Zukunft. Eins sei in diesem
Zusammenhang ausdrücklich betont: es gilt nicht Leitsätze aufzustellen,
sondern es heißt: zu begreifen, wie der Schaffende den andern Schaffen-
den sieht, formt, umformt, vertieft — oder gar verkleinert, je nach dem
Maß seiner Kraft, zu schauen und das Erfahrene, das Geschaute zu gestal-
 
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