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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 35.1941

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Hartlaub, Gustav Friedrich: Körper, Raum und Ton im frühen Mittelalter
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https://doi.org/10.11588/diglit.14214#0020
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G. F. HARTLAUB

spätbarocken und christlich-postbarocken Kunst erbten, und daß sie
diesen Formen und Vorstellungen gegenüber — eben als nordische, dem
„Nebel" entstiegene Völker — eine viel weniger klare und starke, primär-
plastische Anlage gegenüberzustellen vermochten, als etwa die „dorischen"
Griechen es selber getan haben, die trotz der Erbmasse eines spätzeit-
lichen ägäischen, kretisch-mykenischen Barock oder Postbarock seit der
homerischen Zeit doch (sogar auf Kreta selbst) ihre eigene streng
bäuerliche Archaik auszuprägen verstanden hatten. Die neue christlich-
nordische Kunst verwirklicht sich nicht ohne die Zeugnisse jenes spät-
antiken unsinnlichen unendlichen Raumbewußtseins, das wir gekenn-
zeichnet haben und das dem Christentum am tiefsten entsprach, nicht
ohne die Vorstellungen dieses Christentums selber, von denen wir oben
bemerkten, daß sie der neuen Naivität gegenüber wie Eis auf Feuer
wirken mußten. Da das neue „unendliche" Raumgefühl zudem vielleicht
in einer geheimnisvollen Affinität zu dem unstatischen Bewußtsein der
Wander- und Nordvölker überhaupt stand, war die Anlage zu einer acht
archaischen und naiven Verwirklichung, wie sie an das Körperhafte und
Begrenzte, Tastbare und Meßbare gebunden ist, von Anfang an ge-
brochen. Eine archaische Gestaltung auf christlich-asketischer Grund-
lage: das ist ja an sich schon eine contradictio in adjecto. In der Praxis
ist es so, daß wir die ächten Merkmale des Archaischen wohl hier und
da durchschlagen sehen: manche zeichnerische Einzelheit der Miniaturen
und Wandbilder, manches Detail der Reliefs und der Freiplastik im 11.
und frühen 12. Jahrhundert läßt sich ohne weiteres der frühgriechischen
und ägyptischen Formensprache vergleichen (etwa der Braunschweiger
Löwe mit etruskischer Tierplastik, Einzelheiten der Nowgoroder Bronzetür
sogar mit Beninbronzen, Stellen in Tragaltären und Niellos mit archaischen
Vasenbildern usw.), vieles kommt ihr nach Flächenzwang, Blockzwang
und im Sinne einer ideoplastischen Zeichnung unheimlich nahe —
aber gleich daneben stehen Dinge, die nicht nur die Kenntnis spätantiker
Reliefkunst mit ihrer Aktdarstellung und Gewandbehandlung, ihrer ma-
lerischen Perspektive und Raumsymbolik verraten sondern überhaupt
nicht aus einem naiv-„haptischen" Körpergefühl heraus geboren zu sein
scheinen. Neben acht altertümlich frontaler, blockhafter Gestaltung stehen
freie Verkürzungen, Wendungen, steht das ganz unarchaische Dreiviertel-
Profil, steht ein Ignorieren des Reliefgrundes (vergl. die bekannten Erz-
türen des 11. Jahrhunderts). Das Archaische muß erst erobert werden:
Chartres,(um 1100) ist viel archaischer und strenger als das mit antiken
Vorbildern versetzte jung-alte Mischprodukt von St. Gilles in Süd-
frankreich. Und auch innerhalb der Reife des eigentlich romanischen
Stils um und nach 1100 bleiben neben eigentlich reif-archaischen Form-
besiänden viele Reste einer ganz anderen Vorstellungsweise — wobei be-
 
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