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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 29.1919

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Heft 9/10
DOI Artikel:
Dornseiff, Franz: Die Deutschen und die Musik
DOI Artikel:
Ring, Grete: Die "Galerie der Lebenden" zu Berlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.26487#0218

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Die Deutschen und die Musik.

Versenkung in seelische Bezirke fähig, deren Verton-
barkeit vor ihm kein Musiker geahnt hat, aber bis auf
ganz wenige Lieder merkt man allen die Qual ihres
Schöpfers an, hinter dem ein böser grinsender Dämon
des Wahnsinns steht.

V.

Das Neue seitdem stellt eine Empörung des Viel-
verbandes gegen die Weltherrschaft der deutschen Ton-
kunst dar. Er kam auf seine eigene neue Art von der
Chromatik der freischwebenden Halbtonwelt zu den
Ganztönen. Man entdeckte in den Volksmelodien der
Nationen seltsame Ganztonschritte über den Kopf von
Dur und Moll hinweg, ganz alte mittelalterliche Sur-
vivals, und betonte sie auch in der hohen Musik. Grieg,
Smetana, Mascagni, Tschaikowsky sind die ersten, also
Skandinavier, Tschechen, Jtaliener, Russen. Die Fran-
zosen holen dann die Kirchentonarten in gelehrter emsiger
Forschung wieder hervor, die Ganztonleiter und harmoni-
schen Querstände der Debussy-Schule sind die Frucht. Es
hat sich daraus ein gelockertes, geschmeidigeres Verhältnis
zu der Norm Dur und Moll und ein erzentrisches Ab-
weichen von der zentrierten deutschen Baulichkeit er-
geben, eine stärkere, andere Betonung teils uralter
irrationaler, teils animalischer Bestandteile (vgl. das
Verhältnis Bergsons zu Kant). Aauberhaft reiche
Jntuitionen, rhythmisches und klangliches Wiederwach-
werden menschlicher Haltungen und Gefühlsweisen
aus Aeiten und ethischen Höhenlagen, die von der bis-
herigen wählenden Norm und Mitte aus für abseitig,
oberflächlich, niedrig, affektiert und unmöglich angesehen
waren, die aber in Wirklichkeit die köstlichsten und künst-
lerischsten primitiven, mittelalterlichen und erotischen
Dinge sind. Es läßt sich da ein genaues Ausammen-
gehen mit der Entwicklung der bildenden Kunst fest-
stellen. Wie man vom Malerischen, Verwischten, dem
Jmpressionistischen zu einer stärkeren Betonung des
archaischen, gebundenen, betonten zeichnerischen Um-
risses gelangt ist (seit den Präraffaeliten und Marees),
so ist an Stelle der Tristanchromatik eine herbere, be-
tontere, erzentrischere Linien- und Flächenführung ge-
treten, der es bei dem mitteleuropäischen Logos der
Neuzeit, den zwei Tongeschlechtern, nicht mehr recht
wohl ist.

Man darf sehr gespannt sein, wann der Deutsche
wieder durch einen erwählten Sprecher anfangen wird,
aus einem neuen Logos heraus zu bauen. Heute ist
er noch nicht sichtbar, und es dürfte wohl eine Zeit dauern:
diese neue bauende Ordnung muß eine sehr tief begrün-
dete breite Mitte haben; mit den Rationalitäten der
europäischen Neuzeit kann man da nicht ankommen.
Aber nach den bisherigen Musikerfahrungen wird bloß
ein Deutscher diese Mitte haben.

Bis dahin, bis zum Erscheinen des großen bau-
meisterlichen Ausammenfassers, sind der deutschen Musik
wohl gewisse Grenzen gesetzt. Jch brauchte für die neue
Gangart der Musik den Ausdruck erzentrisch. Das soll
nicht bizarr heißen, sondern besagen, daß der Schwer-
punkt dieser für uns so magisch bewegten Dinge nicht in
der Mitte liegt. Fühliges, Geisterhaftes, Mystisches,
Jnstinktives bekommt da Stimme, expressionistisch steil
gezerrt oder geballt, aber das letzte Mittelste deö Menschen

ist nicht das Treibende dabei. Und wenn die Mitte
nicht beteiligt ist, sei es auch ruhevoll, sondern wenn
sie verleugnet wird, das liegt dem Deutschen nicht,
das kann er nicht. Jedenfalls können es die andern
besser, und was der Deutsche da leistet, achten sie nicht
hoch. Erzentrisch ist der englische Clown, vom be-
scheidensten Empire Pavilion bis zum Narr im Lear, ist
Shaw, Chesterton. Aber nicht erzentrisch ist der Kapell-
meister Kreisler bei E. Th. A. Hoffmann, der Don
Quirote der deutschen Musik. Sein seelischer Schwer-
punkt ist nicht etwa spleenig aus der Mitte wegverlegt,
sondern seine Mitte taumelt, er ist verdreht, trunken,
begeistert, verstiegen usw. Ium Spleenigen verhält er
sich wie Jean Paul zu Lawrence Sterne.

Die ausdrucksvoll bewegte, geschmeidige Oberfläche
ist nicht die Stärke der Deutschen; wir haben so wenig
wie in der Literatur und bildenden Kunst in der Musik
eine größere Anzahl Autoren guten zweiten Ranges,
nach denen die außerdeutsche Welt Verlangen zeigt.
Wir haben die höchsten, breitesten Berge, Goethe,
Grünewald, Bach, Wagner, Beethoven, aber — Caruso
schmeckt besser als Knote, Debussy besser als Schönberg,
Casals besser als Hugo Becker, Puccini besser als Kienzl
und Humperdinck, WolstFerrari als Leo Blech usw.
Jch will damit die offensichtliche Oberflächlichkeit der
Welt nicht in Schutz nehmen. Richard Strauß gibt
äußerste deutsche Möglichkeiten an Eleganz, Süße, Be-
weglichkeit und möchte gern Ausfuhrware sein. Aber es
bleibt bei einzelnen Vorstößen nach auswartigen Haupt-
städten wie bei Mar Reinhardt. Warum lieben die Fran-
zosen,Jtaliener,Russen nicht Brahms und Pfitzner? Aus
demselben Grund, weshalb sie uns Hebbel, Keller,
Frenßen, Spitteler, Hans Thoma und Klinger nicht
abnehmen (und Dickens ist erfreulicher als Raabe,
Daumier als Wilhelm Busch); irgendein Muffiges scheint
von dort aus gesehen daran zu sein. Jch glaube, nur
das allergrößte Deutsche wird europäisch.
f885^ Franz Dornseiff.

ie „Galerie der Lebenden" zu Berlin.

Der Kunstübung der jüngsten Ieit wie dem
Schaffen ferner Vergangenheit stehen wir minder
kritisch gegenüber als den Leistungen der dazwischen
liegenden Generationen. Die allzu große und zu geringe
Distanz verunklaren den Blick, den normale Sehweite
schärft. Überscharf blicken wir auf die eben vergangene
Epoche und können uns hier in Verurteilen und Sichten
nicht genug tun. Es ist daher in keinem Fall glücklich,
wenn die Denkmale von gestern und vorgestern mit den
Erzeugnisjen von heute in der gleichen Sammlung ver-
einigt sind: Entweder das Mittelgut von gestern wird
noch gezeigt, dann fällt es selbst gegen die schwächeren
Gegenwartsleistungen ab; oder die ältere Kunst erscheint
bereits so sorgfältig gesiebt, daß nur das qualitätreichste
Gut übrig bleibt; einer solchen Qualitätssammlung
hält wiederum der neuartige Iufallsbesitz nicht lange
stand. Eine stete Forderung insonderheit der Berliner
Kunstfreunde war daher die Eröfsnung einer Galerie,
die die Werke lebender Künstler ohne Vergleichsobjekt
 
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