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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 29.1919

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Heft 5/6
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Edschmid, Kasimir: Der aussätzige Wald
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Herrigel, Hermann: Die Wirklichkeit der Als-Ob-Betrachtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.26487#0133

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Der aussätzige Wald.

Aber alles war nicht mehr scharf genug, um in die
neue entsagensschwere Tiefe seiner Seele einzuschneiden,
und er fühlte es nur alö ein Wehtun auf der Oberflache
und ließ den Raum wie in Bedauern zurück. Dann
öffnete er das Aimmer, in dem er drei Monate neben
dem blendenden Leib von Beautrir gelegen hatte. Er
öffnete es in einem Ritz, sah das unbeschlafene Bett,
sah die schmerzende Dämmerung an dem Fenster wühlen.
Er sog den Geruch ein und sagte vor sich hin: Silberne
Drossel . . . Scharf hoben in dicsem Äugenblick zwei
Mädchen im Nachbarhaus eine Reverdie an.

Es wurde heller.

Silberne Drossel . . .

Er stieg hinunter in den Stall. Er strich seiner Stute
über den Hcüs. Sie sah ihn an. Da erst überfiel ihn in
einem kleinen Teil seines Hirns noch einmal Bewußt-
sein von dem, was nun alles von ihm abfalle. Er trat
zurück. Ein Weinen riß sich in ihm los. Er legte seine
Hand in das Maul der Stute. Die breiten Schultern
zuckten. Lachen löste sich für immer von seinen Lippen.
Dann wandte er sich.

Än der Tür drehte er sich um, schlug die Achseln
zurück und als sei die Last zu schwer und damit er auch
dieses tilge, ging er zurück auf das Tier und tötete es.

Dann ging er durch das Fahlgrau des Morgens
über die Straßen. Er ging vorüber, verächtlich an dem
Pilori. Seine fleckige Brust stand offen. Alle Glocken
fingen an zu läuten. Es war die Zeit der Prim. Es
ward hell, wie er über den Markt schritt. Ein Priester
kam auf einer Stute zu dem Platz, sang laut und betete.
Menschen kamen zur Kirche. Jehan ging durch sie hin
und sie traten zurück und neigten sich vor ihm. So groß
war an diesem Tage noch seine Macht.

Er kam an das Tor, überschritt die Brücke. Er ging
weiter, drehte sich einmal um. Die Tore waren zu-
gefallen. Rechts lag der See. Schwer knieten die acht
Türmc auf dem Nacken des Bollwerks um daö Tor.
Er besah es sinnend. Dann schritt er aufs Feld. Der
Wald der Aussätzigen lag vor ihm. Wie eine Braue ...
schien es ihm.

Plötzlich traf ihn ein Schrei. Er sah einen Arm.
Etwas Weißes trennte sich von dem Busch. Beautrir
warf sich ihm entgegen.

„Wo willst du hin?"

„Nach dem Wald."

„Du nimmst mich mit!"

Er öffnete die Brust. Sie stampfte mit dem Fuß:
„Es ist mir gleich."

Jehan sagte ruhig: „Nein." Sie hielt ihn am Arm:
„Jch will auch aussätzig sein. Was geht es dich an?"
Jehan wandte sich von ihr. Sie trat schäumend in den
Weg:

„Du, der du mich küßtest . . . dort . . . das erste
Mal. . . schliefst du in meinem Bett Nacht auf Nacht...
Weißt du, daß du mich hießest: Falke . . ."

Jehan wußte es noch. Er sagte: „Ja" und nickte.
„Silbernc Drossel . . ." sagte er.

Aber sie (die nicht begriff, wie alles in ihm getötet
sei und daß alles Weibliche in allen Beziehungen zu
tief für ihn liege und kaum die äußersten Nänder seines
Horizonts noch streife, da sein Geist schon ganz ein-

gerichtet war auf den neuen Sinn seines Lebens, der
ihr entrückt auf einem fremden Schwerpunkt lag) —
warf sich auf seine Füße und weinte, daß er sie mit-
nehme. Doch er befahl ihr zurückzugehen. Sie wälzte
sich und tat es nicht. Da schrie er sie- an: „Sklavin!"
und als sie erstarrt sich aufreckte:

„Sklavin um zweitausend Denare."

Sie klammerte sich an ihn.

Da stieß er sie zurück und schlug sie.

Er zog weiter. Beautrir lag hinter ihm, ein großes
Stück helles Fleisch, durchrast und geschwellt von maß-
losem Schmerz, auf der staubigen besonnten Straße.
Wie waren die Blumen farbig auf den Wiesen. Wie
legte der Morgen sich licht um die Welt.

Jehan schritt die Ebene hinunter. Er begegnete
Wallfahrern, die in Jericho Zweige gepflückt hatten.
Die Palmiers san en: Oltrss, Oisn8, uis! Er ging auf
die Seite, verbeugte sich.

Einmal noch mußte er wenden. Der weiße Hühner-
hund lief ihm nach. Er trug ihn in den Graben und
tötete ihn.

Und setzte den Weg fort. Jehan Bodel, Sire d'Arras,
trug das dunkelrote Gewand mit der Bordüre aus
Pelz. Er trug den Turban aus Pelz. Seine Füße
gingen in grünen Schuhen.

So schritt er hinunter. Dann bewegten sich seine
Lippen. Er sang. Sang ein Lied, das er wo gehört
hatte. Es kam ihm wie durch einen Spalt: Von einem
Freund. . . . An einem Kamin in der Bretagne. . .
Gasse Brulle?--

Er wußte es nicht mehr. Seine Gedanken waren
davon abgeschwommen. Er verstand den Sinn der
Worte nicht, die sein Mund hinauswarf, laut. Es war
ein Liebeslied. Er sah auf seine Hände, die in Blut
trieften:

Hs blnnclis, slsrs et vsrmsills,

Os vos sont tnit mi clssir;

Oar knitss sn tsl msrveills
Oroitnrs st raison kaillir.

Znant js vos vnsill a nmis,

Öroi^ nsl poroit otriisr;

8s vostrs Arant cortoisis,

Os Asntil clonsor Aarnie,
l>Ie ms clsiAne conssillisr;

Nnr vos oi tant prisisr.

Seine Haltung war stark und königlich.

Mit einer ungeheuer schlichten Gebärde ging er auf
den Wald zu, der ihm entgegenkam.

ie Wirklichkeit

der Als-Ob-Betrachtung.

i.

Hans Vaihingers „Philosophie des Als-Ob", erst-
mals 1911 erschienen, liegt nunmehr nach sieben Jahren
trotz dem Kriege in einer neuen, der dritten Auflage vor.
Gleichzeitig kündigt sein Verlag (F. Meiner, Leipzig)
eine Aeitschrift „Annalen der Philosophie" an, die die
Als-Ob-Betrachtungen zusammenfassen soll. Dieser bei-
 
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