Die niederrheinische Plaslik.
staltungsuntcrschieden befrcite Wirklichkcit. Das letzte
erkenntnistheoretische Probleni ist daher das Problem
des transzendentalcn Subjekts der Wissenschaft. All-
gemeingültig ist auch die positivistische Wirklichkeit des
empfindungsniäßig Gegebencn, doch ist damit die Auf-
gabe nicht ersüllt, da die Wissenschaft die volle Mög-
lichkeit allgemeingültiger Wirklichkeitsgestaltung auszu-
schöpfen sucht. Jhre Aufgabe ist, zwischen dem praktischen
Sein des vitalen und dem absolutcn Sein des meta-
physischen Subjektes den Punkt zu fixieren, an deni
das Marimum allgemeingülüger Wirklichkeit errcicht ist
und in dem die Wissenschaft grundsätzlich eine endgültige,
allgemeine Geltung und eine konstante Abgeschlossenheit
erreicht hat. f845ss Hermann Herrigel.
^>ie niederrheinische Plastik*).
Eine Geschichte der niederrheinischen Plastik ist
seit langer Ieit ein von vielen gewünschtes, aber von
niemand gewagtes Buch. Den lokalen Einzelforschungen
fehlte das Fundanient, auf dem sie mit Sicherheit bauen
konnten. Denn erst wenn die großen Grundlinien fest-
liegen, kann die Spezialforschung mit Erfolg einsetzen,
erst dann ist es ihr möglich, bei der Bewertung eines
Einzelwerkes oder einer gesonderten Gruppe den ganzen
Ausammenhang zu übersehen, in den es sich wie das
Glied einer Kette fügt. Dieses Fundament hat nun
Lüthgen mit seinem umfang- und inhaltreichen Werke
geschaffen, und er hat sich schon durch die Übernahme
einer solchen Aufgabe den Dank der Forschung verdient.
Es war ein ebenso heikles wie lohnendes Unterfangen,
aus der Geschichte der deutschen Plastik ein Sonder-
gebiet herauszuschälen, das an Material ebenso reich ist
wie an Problemen.
Die Bildnerei des Niederrheins hat sich im 14. und
15. Jahrhundert zwar einen eigenartigen und boden-
standigen Stil geschaffen, aber es ist nicht leicht, dessen
Merkmale mit Worten scharf zu umgrenzen und zu prä-
zisieren. Die niederrheinische Kunst ist eine Mischkunst,
die begierig die heterogensten Formelemente in sich auf-
sog und verarbeitete. Umgeben von vier machtigen
Kulturgebieten, ohne feste geographische Grenzen, war
dem Auströmen fremder Kulturen Tür und Tor geöffnet.
Der Forscher mußte daher einmal weit ausschweifen
und die Grundlagen der Formbildungen der Nachbar-
gebiete mit in den Kreis seiner Betrachtungen ziehen.
Er mußte alle Entwicklungen und Bestrebungen rings-
herum beobachten und zum Vergleich heranziehen, und
durfte dabei aber nicht das Eigene übersehen, das sich
in dem Chaos des Fremden zu behaupten und durch-
zusetzen sucht. Aber auch innerhalb des niederrheinischen
Kulturkreises ist die Entwicklungskurve keineswegs eine
einheitliche gewesen. Deutlich scheidet sich der obere
vom untercn Niederrhein (die Ruhr bildet ungefähr
die Grenze) und der Stroni selbst teilt die Lande in
ihrer Längsachse.
Eine weitere Schwierigkeit entstand durch das
Fehlen deutlich sich abhebender künstlerischer Persön-
*) §u E. Lüthgen: Die niederrheinische Plastik.
Heitz L Mündel, Straßburg.)
(Derlag
lichkeiten und Schulen. Es ergab sich dahcr schon aus
der Eigenart des Materials, daß Lüthgen seine Ge-
schichte dcr niederrheinischen Plastik am glücklichsten
in Gestalt einer Entwicklungsgeschichte dcr Stil- und
Formprobleme zu lösen vermochte. Die Auffindung der
Herkunft beliebiger Einzelformen trägt inimer nur zur
Kenntnis der Entwicklungsgeschichte der Stilformen bei,
den künstlerischen Gehalt berühren sie kaum. Denn in
dem Kunstwollen, nicht in der llbernahme von Einzel-
formen liegt der Eigenwert jedes Stiles. Jn der Ent-
wicklungsgeschichte der niederrheinischen Bildnerei gibt
dic Eigenart des Kunstwillens den Ausschlag, denn
während die niederrheinische Kunst oft überraschende
Beziehungen zur belgisch-holländischen, norddeutschen
und westfälischen aufweist, scheidet sie sich in ihrem
innern Gehalt mit feinfühliger Empfindsamkeit von
ihren Nachbargebieten. Aus der großen Fülle der er-
haltenen Denkmäler die große Richtlinie der künst-
lerischen Aiele herausgelesen und zur Darstellung ge-
bracht zu haben, ist Lüthgens großes Verdienst.
Der Angelpunkt zum Verständnis der Kunst des
Niederrheins liegt in Belgien. Auch Belgien, eingekeilt
zwischen den beiden ausgesprochensten Wesensgegen-
sätzen, die das westliche Europa kennt, dem Romanisch-
Französischen und Germanischen, war den Schicksalen
eines Grenzlandes unterworfen.
Die Awiespältigkeit belgischer Art mußte sich natur-
gemäß auch auf seine Einflußgebiete übertragen. Aus
den wallonischen Gebieten strömte der französische
Formsinn, gewandelt durch belgische Eigenart, aus den
flandrischen dringt eine besondere Art germanischer
Formkraft, die am Niederrhein ein verwandtes Fühlen,
eine innerlich gleichgestimmte Formanschauung vor-
findet.
Schon in der Frühzeit der gvtischen Stilentwick-
lung bietet der Niederrhein das vorzüglichste Beispiel
der Bedingtheit der Form durch die Eigenart des Werk-
stoffes. Das Fehlen geeigneten Steinmaterials führte
zu einer überwiegenden Entwicklung der Holzplastik.
So ist es zu verstehen, daß sich am Niederrhein bei weit-
gehender Freiheit und Gelöstheit von Stoffrücksichten
ein im Sinn der Flächenkunst malerischer Stil der Plastik
entwickelte. Dazu gesellte sich der Einfluß des kölnischen
und des niederlandischen Nachbargebietes, in denen die
Malerei in höchster Blüte stand, während am Nieder-
rhein die Bildnerei standig die Führung unter den
Künsten hatte. Eine ausgeprägte Malerschule ist dort
während der ganzen gotischen Stilperiode nicht nachweis-
bar. Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts war es auch
in Köln vorwiegend die Malerei gewesen, die sich der
Formanschauung der Plastik anpaßte.
Das 14. Jahrhundert hatte sich noch nicht um die
Gestaltung einer Tiefenwirkung bemüht. Die Figur
war aus dem Raume isoliert und in die Bildebene proji-
ziert. Diese Abhängigkeit der Malerei von der Plastik
dauert bis tief in daS 15. Jahrhundert hinein fort. Alle
Stilwandlungen der Plastik lassen sich auch in der Malerei
verfolgen. Die Loslösung aus der blockhaften Er-
starrung und das Erwachen einer wirklichkeitsähnlichen
Körperhaftigkeit, die Krast und Fülle anstrebt, kündigen
sich in dem bildnerischen Schmuck des Hansesaals ebenso
wie in den Marmoraposteln am Grabmal des Erzbischofs
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staltungsuntcrschieden befrcite Wirklichkcit. Das letzte
erkenntnistheoretische Probleni ist daher das Problem
des transzendentalcn Subjekts der Wissenschaft. All-
gemeingültig ist auch die positivistische Wirklichkeit des
empfindungsniäßig Gegebencn, doch ist damit die Auf-
gabe nicht ersüllt, da die Wissenschaft die volle Mög-
lichkeit allgemeingültiger Wirklichkeitsgestaltung auszu-
schöpfen sucht. Jhre Aufgabe ist, zwischen dem praktischen
Sein des vitalen und dem absolutcn Sein des meta-
physischen Subjektes den Punkt zu fixieren, an deni
das Marimum allgemeingülüger Wirklichkeit errcicht ist
und in dem die Wissenschaft grundsätzlich eine endgültige,
allgemeine Geltung und eine konstante Abgeschlossenheit
erreicht hat. f845ss Hermann Herrigel.
^>ie niederrheinische Plastik*).
Eine Geschichte der niederrheinischen Plastik ist
seit langer Ieit ein von vielen gewünschtes, aber von
niemand gewagtes Buch. Den lokalen Einzelforschungen
fehlte das Fundanient, auf dem sie mit Sicherheit bauen
konnten. Denn erst wenn die großen Grundlinien fest-
liegen, kann die Spezialforschung mit Erfolg einsetzen,
erst dann ist es ihr möglich, bei der Bewertung eines
Einzelwerkes oder einer gesonderten Gruppe den ganzen
Ausammenhang zu übersehen, in den es sich wie das
Glied einer Kette fügt. Dieses Fundament hat nun
Lüthgen mit seinem umfang- und inhaltreichen Werke
geschaffen, und er hat sich schon durch die Übernahme
einer solchen Aufgabe den Dank der Forschung verdient.
Es war ein ebenso heikles wie lohnendes Unterfangen,
aus der Geschichte der deutschen Plastik ein Sonder-
gebiet herauszuschälen, das an Material ebenso reich ist
wie an Problemen.
Die Bildnerei des Niederrheins hat sich im 14. und
15. Jahrhundert zwar einen eigenartigen und boden-
standigen Stil geschaffen, aber es ist nicht leicht, dessen
Merkmale mit Worten scharf zu umgrenzen und zu prä-
zisieren. Die niederrheinische Kunst ist eine Mischkunst,
die begierig die heterogensten Formelemente in sich auf-
sog und verarbeitete. Umgeben von vier machtigen
Kulturgebieten, ohne feste geographische Grenzen, war
dem Auströmen fremder Kulturen Tür und Tor geöffnet.
Der Forscher mußte daher einmal weit ausschweifen
und die Grundlagen der Formbildungen der Nachbar-
gebiete mit in den Kreis seiner Betrachtungen ziehen.
Er mußte alle Entwicklungen und Bestrebungen rings-
herum beobachten und zum Vergleich heranziehen, und
durfte dabei aber nicht das Eigene übersehen, das sich
in dem Chaos des Fremden zu behaupten und durch-
zusetzen sucht. Aber auch innerhalb des niederrheinischen
Kulturkreises ist die Entwicklungskurve keineswegs eine
einheitliche gewesen. Deutlich scheidet sich der obere
vom untercn Niederrhein (die Ruhr bildet ungefähr
die Grenze) und der Stroni selbst teilt die Lande in
ihrer Längsachse.
Eine weitere Schwierigkeit entstand durch das
Fehlen deutlich sich abhebender künstlerischer Persön-
*) §u E. Lüthgen: Die niederrheinische Plastik.
Heitz L Mündel, Straßburg.)
(Derlag
lichkeiten und Schulen. Es ergab sich dahcr schon aus
der Eigenart des Materials, daß Lüthgen seine Ge-
schichte dcr niederrheinischen Plastik am glücklichsten
in Gestalt einer Entwicklungsgeschichte dcr Stil- und
Formprobleme zu lösen vermochte. Die Auffindung der
Herkunft beliebiger Einzelformen trägt inimer nur zur
Kenntnis der Entwicklungsgeschichte der Stilformen bei,
den künstlerischen Gehalt berühren sie kaum. Denn in
dem Kunstwollen, nicht in der llbernahme von Einzel-
formen liegt der Eigenwert jedes Stiles. Jn der Ent-
wicklungsgeschichte der niederrheinischen Bildnerei gibt
dic Eigenart des Kunstwillens den Ausschlag, denn
während die niederrheinische Kunst oft überraschende
Beziehungen zur belgisch-holländischen, norddeutschen
und westfälischen aufweist, scheidet sie sich in ihrem
innern Gehalt mit feinfühliger Empfindsamkeit von
ihren Nachbargebieten. Aus der großen Fülle der er-
haltenen Denkmäler die große Richtlinie der künst-
lerischen Aiele herausgelesen und zur Darstellung ge-
bracht zu haben, ist Lüthgens großes Verdienst.
Der Angelpunkt zum Verständnis der Kunst des
Niederrheins liegt in Belgien. Auch Belgien, eingekeilt
zwischen den beiden ausgesprochensten Wesensgegen-
sätzen, die das westliche Europa kennt, dem Romanisch-
Französischen und Germanischen, war den Schicksalen
eines Grenzlandes unterworfen.
Die Awiespältigkeit belgischer Art mußte sich natur-
gemäß auch auf seine Einflußgebiete übertragen. Aus
den wallonischen Gebieten strömte der französische
Formsinn, gewandelt durch belgische Eigenart, aus den
flandrischen dringt eine besondere Art germanischer
Formkraft, die am Niederrhein ein verwandtes Fühlen,
eine innerlich gleichgestimmte Formanschauung vor-
findet.
Schon in der Frühzeit der gvtischen Stilentwick-
lung bietet der Niederrhein das vorzüglichste Beispiel
der Bedingtheit der Form durch die Eigenart des Werk-
stoffes. Das Fehlen geeigneten Steinmaterials führte
zu einer überwiegenden Entwicklung der Holzplastik.
So ist es zu verstehen, daß sich am Niederrhein bei weit-
gehender Freiheit und Gelöstheit von Stoffrücksichten
ein im Sinn der Flächenkunst malerischer Stil der Plastik
entwickelte. Dazu gesellte sich der Einfluß des kölnischen
und des niederlandischen Nachbargebietes, in denen die
Malerei in höchster Blüte stand, während am Nieder-
rhein die Bildnerei standig die Führung unter den
Künsten hatte. Eine ausgeprägte Malerschule ist dort
während der ganzen gotischen Stilperiode nicht nachweis-
bar. Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts war es auch
in Köln vorwiegend die Malerei gewesen, die sich der
Formanschauung der Plastik anpaßte.
Das 14. Jahrhundert hatte sich noch nicht um die
Gestaltung einer Tiefenwirkung bemüht. Die Figur
war aus dem Raume isoliert und in die Bildebene proji-
ziert. Diese Abhängigkeit der Malerei von der Plastik
dauert bis tief in daS 15. Jahrhundert hinein fort. Alle
Stilwandlungen der Plastik lassen sich auch in der Malerei
verfolgen. Die Loslösung aus der blockhaften Er-
starrung und das Erwachen einer wirklichkeitsähnlichen
Körperhaftigkeit, die Krast und Fülle anstrebt, kündigen
sich in dem bildnerischen Schmuck des Hansesaals ebenso
wie in den Marmoraposteln am Grabmal des Erzbischofs
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